Aus den Feuilletons

Russisches Schulamt verbietet Lindgren-Buch

Die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren, aufgenommen 1989 in der Fußgängerzone Arbat in Moskau während eines Russland-Besuchs.
1989 besuchte Astrid Lindgren mit sichtbarer Freude Moskau, mittlerweile halten manche Russen eines ihrer Bücher für schädlich. © picture alliance / dpa
Von Tobias Wenzel · 28.03.2015
Behörden in aller Welt treiben ihr Unwesen: Ein russisches Schulamt stuft "Karlsson vom Dach" als kinderschädigend ein, türkische Schulbücher beschreiben die Deportation der Armenier vor 100 Jahren als humanitäre Maßnahme. Ein Blick in aktuelle Zeitungsartikel.
"Wer wird der neue Chef der Berliner Philharmoniker? Sie gelten als Favorit. Wie lautet Ihr Tipp?", fragte Reinhard J. Brembeck in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG den Dirigenten Christian Thielemann. Der antwortete: "Mein Tipp lautet: Mund zu." Und umriss damit indirekt das Themenfeld, das die Feuilletons dieser Woche beschäftigte:
Wann sollte man lieber schweigen, anstatt geschwätzig zu spekulieren? Wann wird dagegen das Schweigen zum unredlichen Ver- oder gar Totschweigen? Und wann verbieten wiederum einige Menschen anderen zu Unrecht den Mund? Doch der Reihe nach:
Am Dienstag argumentierte der Heidegger-Biograph Rüdiger Safranski im Interview mit Michael Stallknecht von der SZ mit Verve dafür, dass es sich auch jetzt noch lohne, den Philosophen Martin Heidegger, unter anderem sein Werk "Sein und Zeit", zu lesen. Jetzt, da nach dem neuesten Band der sogenannten "Schwarzen Hefte" klar ist, dass Heidegger ein vom Nationalsozialismus begeisterter Antisemit war und diese Einstellung sogar Einzug in seine Philosophie fand. Safranski gelang es im Gespräch aber durchaus, Lust auf eine Heidegger-Lektüre zu machen. Bis, ja bis die FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG meldete, Vittorio Klostermann, der Verleger der Heidegger-Gesamtausgabe, habe in Briefen die entsprechenden Herausgeber der Bände besorgt darauf hin gewiesen, dass Heidegger durch "Glättungen und Streichungen" sympathischer gemacht worden sein könnte, als er war. So sei in Band 69 eine Passage, in der Heidegger von einer "eigentümlichen Vorbestimmung der Judenschaft für das Planetarische Verbrechertum" schreibt, weggekürzt worden. In einem anderen Band sei Heideggers Abkürzung "N.soz" nicht etwa korrekt als "Nationalsozialismus", sondern als "Naturwissenschaft" gedeutet worden. Da kann man sich nun wirklich schwer damit tun, Heidegger zu lesen und also Werke, in denen den Philosophen liebende Herausgeber hier und da die unangenehme Wahrheit offensichtlich verschwiegen haben.
Der Zynismus der türkischen Geschichtsklitterung
Vom Verschweigen zum Totschweigen und Verdrehen der Tatsachen ist es nur ein kleiner Schritt: "Mit dem Umsiedlungsgesetz wurden nur jene Armenier aus dem Kriegsgebiet entfernt und in die sicheren Regionen des Landes gebracht, die sich an den Aufständen beteiligt hatten. Diese Vorgehensweise hat auch das Leben der übrigen armenischen Bevölkerung gerettet [...]" Ein verstörender Auszug aus einem aktuellen türkischen Schulbuch. Rainer Hermann zitierte ihn in der FAZ. 2015 jährt sich zum hundertsten Mal der Beginn des Völkermords an den Armeniern. In den türkischen Schulbüchern kommt er aber noch immer nicht vor. Die Deportation der Armenier im Jahr 1915, ihr Fußmarsch bis nach Syrien, sei einem Todesurteil gleichgekommen, schrieb Hermann weiter: "Die meisten starben durch Hunger, Krankheit oder Epidemien; viele wurden vorsätzlich getötet." In den Schulbüchern klingt das allerdings wie eine liebenswürdige humanitäre Aktion der Türken: "Um die Bedürfnisse der umgesiedelten Armenier unterwegs zu stillen, wurden eigens Beamte beauftragt. [...] Man achtete darauf, dass der Boden an den Zielorten fruchtbar war und es an Wasser nicht mangelte." Mit dem vermeintlich "fruchtbaren Boden" sei die "wasserlose syrische Wüste" gemeint, erläuterte Rainer Hermann in der FAZ den Zynismus dieser türkischen Geschichtsklitterung.
Vom Totschweigen zum Mundtotmachen: "Irgendetwas muss in den Köpfen während der Sowjetzeit kaputtgegangen sein, denn das ist ein gesellschaftliches Phänomen", sagte die Moskauer Autorin Alissa Ganijewa im Gespräch mit der TAZ. Abweichende Meinungen würden in Russland nicht akzeptiert. "Leider sieht es im Moment so aus, dass die Kunst unterliegt", schreibt Nikolai Klimeniouk in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. Gerade habe ein russisches Schulamt Astrid Lindgrens "Karlsson vom Dach" als "kinderschädigend" eingestuft und aus öffentlichen Bibliotheken entfernt. Außerdem würden russische Machthaber, Kirchenleute und deren Anhänger gegen eine Tannhäuser-Inszenierung an der Staatsoper Nowosibirsk vorgehen, weil die angeblich die Gefühle religiöser Menschen verletze. Diese Kritiker, vermutet Klimeniouk, haben wohl noch nie nur eine Note Wagner gehört: "Sie verhalten sich zu Wagner samt seinen Interpreten so ähnlich wie die IS-Kämpfer zu den assyrischen Skulpturen von Mossul." Für diesen Sonntag sei eine große Demonstration gegen den Tannhäuser angekündigt. "Der Erzbischof von Nowosibirsk forderte alle Gläubigen zur Teilnahme auf und setzte jetzt schon alle, die nicht kommen, mit Judas gleich."
Tranströmers Gesamtwerk passt in ein Buch
Von denen, die den anderen den Mund verbieten wollen, zu jenen, die manchmal besser geschwiegen hätten: "Niemand machte einen Punkt, alle redeten immer weiter", schrieb Michael Hanfeld in der FAZ und kritisierte die Berichterstattung einiger Medien zum Flugzeugabsturz in Frankreich. "Sie legten Zeugnis ab von einer Ungeduld, die Ungewissheit nicht erträgt [...]."
Der gestorbene Lyriker und Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer war dagegen äußerst geduldig und schrieb nur das Allernötigste: Sein Gesamtwerk passt problemlos in ein einziges Buch. "[D]er Geschwätzigkeit des Zeitgeistes setzte er immer knapper, klarer und präziser werdende Gedichte entgegen", schrieb Dorothea von Törne in ihrem Nachruf für die WELT. Und Thomas Steinfeld zitierte in der SZ unter anderem diesen Haiku des Schweden: "Das Gedicht, das völlig möglich ist. // Ich blickte hinaus, als die Zweige schwankten. / Weiße Möwen aßen schwarze Kirschen."