"Sarrazin auf Speed" und "Unser Lieblingschinese"
Der deutsch-türkische Autor Akif Pirinçci sorgt mit seinem Buch "Deutschland von Sinnen" - laut der "Zeit" das "Produkt eines wild gewordenen Autodidakten" - unter anderem für Ratlosigkeit. Verwirrung bringt auch der vom Westen gefeierte chinesische Künstler Ai Weiwei und seine Berliner Ausstellung.
"Die Schneidezähne wühlen sich durch die Fasern, die Molaren quetschen den Saft aus den Kammern – das ist der Auftakt zum großen Magnifikat, das den Mund in eine wässrige Kathedrale verwandelt",
schrieb Samuel Herzog in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG über seine – na ja – etwas abseitige Liebe: den Stangensellerie.
"Dass er für Außerordentliches geschaffen ist, verrät bereits der erste Biss in das lichte Grün".
Und so träumte Herzog davon, Stangensellerie wie Stahl zu verwenden, um daraus zum Beispiel sakrale Bauten entstehen zu lassen.
Den Blick in die Feuilletons einer gesamten Woche mit einem derart abseitigen Thema zu beginnen – der deutsch-türkische Autor Akif Pirinçci könnte das nicht. Da würde er lieber eine der sprechenden Katzen aus seinen Krimis fressen. Denn Pirinçci hasst, abgesehen von sprechenden Katzen natürlich, das Abseitige. Er liebt die Masse. Und für sie hat er das Buch "Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer" geschrieben. "Sarrazin auf Speed" sei das, meint Harald Staun in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG.
"Hinter seinem krawalligen Vulgärkonservatismus verbergen sich […] die altbekannten Klagen jener Wutbürger, die mit all den Zumutungen einer modernen Gesellschaft nicht mehr klarkommen: mit Homosexuellen, die heiraten, mit Frauen, die eine eigene Meinung haben, mit Jugendlichen, die nicht arbeiten […]."
Und dann sind da natürlich noch die bösen Medien, die – klar! – von gefährlich linken Gutmenschen unterwandert sind. Wäre nicht der Rede wert, wenn Pirinçcis populistisches Werk nicht das zurzeit am häufigsten im Internet gekaufte deutsche Buch wäre. Nur was kann man dagegen tun? Harald Staun ist ratlos:
"Soll man vorsichtshalber ein paar homophobe Vorurteile in die Zeitung schreiben, nur damit sie nicht zu Bestsellern für die Fans dröhnender Meinungsanfälle werden?"
"Dieses Buch ist das Produkt eines wild gewordenen Autodidakten", schrieb Ijoma Mangold schockiert in der ZEIT. "Im Bramarbasieren über alles und jedes, in der scheinbar widerstandslosen Herstellung von Evidenz und Zusammenhang, in der triumphalistischen Geste der Entlarvung von medialen Lügengespinsten, in seiner Mischung aus Brutalität und Heulerei erinnert das Buch – ich schwöre, ich habe noch nie einen Hitler-Vergleich gezogen in meinem Berufsleben – an Adolf Hitlers 'Mein Kampf'."
"Unser Lieblingschinese"
"Vergleicht Hitler!", fordert Peter Körte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. Ironisch, wohlgemerkt. "Ich vergleich das nicht", habe Wolfgang Schäuble gesagt, nachdem er – wie soll man es formulieren? – eine Analogie zwischen Hitlers Vorgehen im Sudentenland und Putins Besetzung der Krim gezogen hatte. Vor Berliner Schülern. Der Lehrer freute sich laut Regina Mönch von der FAZ über diese "Sternstunde des Politikunterrichts". Die Schüler dagegen hätten die Welt nicht mehr verstanden, als aus Schäubles Äußerung im Abseits ein politischer Skandal geworden war.
Überhaupt schien so manch einer in dieser ereignisreichen Feuilletonwoche wenig zu verstehen. Deniz Yücel, Redakteur der TAZ, musste eine Nacht in einer Sammelzelle am Flughafen von Istanbul verbringen, weil gegen ihn ein Einreiseverbot vorlag. Noch mehr allerdings überraschte Yücel, wie einfach er mit seinem Handy in den eigentlich in der Türkei gesperrten Dienst Twitter gelangen konnte. Zellengenossen hatten ihm erklärt, wie man die Sperre umgeht:
"Keine fünf Minuten, und ich bin auf Twitter und kann aus dem Polizeigewahrsam meine Selfies twittern."
Und dann noch eine Verwirrung: um den bisher vom Westen gefeierten chinesischen Künstler Ai Weiwei und seine neue Berliner Ausstellung.
"Virtuos bespielt der Künstler die 18 Säle des Gropius-Baus, den er nie besucht hat", schwärmte Nicola Kuhn im TAGESSPIEGEL.
Nee!, meinte dagegen Cornelius Tittel in der WELT: "Die Ausstellung zeigt […], dass Ai Weiwei ein Künstler mit überschaubaren Fähigkeiten ist."
Hanno Rauterberg von der ZEIT ging noch härter mit dem Chinesen ins Gericht: "[…] zumeist bleibt seine Kunst nur Dissidentenfolklore."
Rauterberg hat seinen Artikel böse mit "Unser Lieblingschinese" betitelt. Kia Vahland von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG nennt Ai Weiwei eine "Sehnsuchtsfigur der Deutschen".
In den Stangensellerie verliebter Journalist
Kurt Cobain war, glaubt man den Feuilletonisten, die Sehnsuchtsfigur der Generation X. Vor zwanzig Jahren schoss sich der Sänger der Band Nirvana mit einer Schrotflinte in den Kopf. "Der zaudernde Zauberer", titelte die SZ, "Kein Selbstmörder wird öffentlich mehr beweint als Cobain", schrieb Michael Pilz in der WELT. Die Generation MTV habe alles von ihm geradezu aufgesogen: "Eine Altersschicht, der es so gut ging, dass sie sich so sehr nach Tragik sehnte wie keine der tragischen Generationen vor ihr."
Die Kriegfotografin Anja Niedringhaus, die am Freitag in Afghanistan erschossen wurde, war unaufhörlich ganz real von Tragik umgegeben. "Kriegsfotografin zu sein, ist mehr als ein Beruf, wenn man ihn so intensiv macht wie ich", sagte sie in einem ihrer letzten Interviews, das die SZ nun abdruckte. "Aber ich bin glücklich damit."
Ein "Schwarzseher voller Hoffnung" sei Urs Widmer gewesen, schrieb Richard Kämmerlings in der WELT zum Tode des Schweizer Schriftstellers. Für Joseph Hanimann von der SZ war er "der Querläufer der Schweizer Gegenwartsliteratur, der sich am versponnenen Robert Walser wie am üppigen Friedrich Dürrenmatt orientieren konnte". Er sei ein großer Erzähler gewesen: "Er hat das Normale ins Surreale übersetzt und die Sehnsucht beim Wort genommen."
Das hat, auf seine Art, auch Samuel Herzog von der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG getan. Schließlich träumte der in den Stangensellerie verliebte Journalist davon, aus dem knackigen Gemüse auch einen neuen Eiffelturm zu bauen:
"Hält man eine Selleriestange gegen die Sonne, bekommt man eine Ahnung von den luminösen Transformationen, die Paris unter dem Wahrzeichen eines Sellerieturms erleben würde. 'Impression au céleri levant' – die Farborgien der Impressionisten würden sich daneben wie blasse Tupfereien ausnehmen."