Sorge um den Netflix-Stream
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Die Krise sei ein Test für eine auf das Virtuelle reduzierte Gesellschaft, schreibt die "Süddeutsche". Dazu gehöre auch die Sorge um funktionierende Streamingdienste - Eltern bekämen neue Erkenntnisse über das Internet, erläutert die "Welt".
Wären dies andere Zeiten, würden wir heute vergleichen, wie die Feuilletons den Geburtstag von Hölderlin begehen. Aber es sind keine normalen Zeiten.
Mit dieser rhetorischen Figur beginnen derzeit die meisten Feuilleton-Artikel. Das Thema steht eh fest, je länger, desto wahlweise reflektierter oder galgenhumoristischer – wie etwa bei dem Satiriker Andreas Thiel, der in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG die Frage stellt:
"Wie reagieren wir richtig auf die Krisenbewältigung – ironisch, zynisch oder sarkastisch?", um uns mit auf den Weg zu geben, der Zynismus sei eh "bloss eine Haltestelle auf dem Weg von der Ironie zum Sarkasmus".
Gesundheit und Freiheit verteidigen
Fangen wir mit der Reflexion an. Gleich zwei juristische Analysen unserer Demokratie bietet die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. "Alle Macht dem Virus?", fragt Hinnerk Wißmann, Jurist aus Münster. Er meint, "es geht darum, die wechselseitige Abhängigkeit von handlungsfähigem Staat und freier Gesellschaft zu beachten." Fazit: "Wir müssen nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch unsere Freiheit verteidigen."
"Das Recht des Ausnahmezustands ohne Krieg" analysieren Florian Meinel und Christoph Möllers von der Humboldt Universität: "Viele demokratische Verfassungen kennen das Institut des Ausnahmezustands. Das Grundgesetz lässt derlei nur für den militärischen Notstand zu. Wäre es", fragen die beiden, "sinnvoll, auch für die Pandemie solche Ausnahmebefugnisse zu schaffen?" - und haben eine klare Antwort: "Nichts spricht dafür."
Wie die Gesellschaft im Stillstand funktioniert
Der Punkt beschäftigt auch Andreas Zielcke. "Das Grundgesetz kennt keinen Ausnahmezustand", bemerkt er in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, "in Wirklichkeit aber haben wir jetzt einen. Allerdings, und das entschärft die Frage etwas, erfasst der auferlegte Stillstand die reale, nicht aber die digitale Geselligkeit und Kommunikation. Wir erleben heute einen Testlauf, wie die aufs Virtuelle reduzierte Gesellschaft funktioniert."
Wenn sie funktioniert. In derselben SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG fragt Jannis Brühl: "Bedroht die Corona-Krise auch das Streaming? Die Schweizer Regierung hat bereits dazu aufgerufen, weniger Videos zu streamen. Thierry Breton, (EU-)Kommissar für den Binnenmarkt hat mit Netflix-Chef Reed Hastings über Möglichkeiten gesprochen, ob nicht die Bildqualität bei starker Auslastung heruntergeschraubt werden könne".
Lehrmaterial aus dem Internet
Rüdiger Schaper erinnert im TAGESSPIEGEL im Rahmen einer Analyse der Krisenrhetorik westlicher Politiker (Tenor: "Angela Merkel zeichnet sich durch ihre Zivilität aus, Franzosen und Amerikaner üben sich in Kriegsrhetorik") an einen Film, den es sicher nicht auf Netflix gibt: Rosa von Praunheims drastisch schräge Aids-Komödie "Ein Virus kennt keine Moral" von 1986.
Für die Gegenden, in denen der Stream strömt, sagt Christian Füller in der WELT einen "Umsturz" voraus: "Auf der Suche nach Projektideen für den Hausunterricht entdecken Eltern, dass das Netz nicht nur ein liederlicher Raum des Hasses und der Verblödung ist, sondern eine von Lehrmaterialien überquillende Bibliothek. In den bevorstehenden fünf Wochen wird die Entdeckungsreise die Eltern so weit von der alten Schule führen, dass womöglich die Frage lauten wird: Warum überhaupt zurück in die Schulpflicht?"
Tipps gegen Depression und Langeweile
Schaun wir mal. Für die Zwischenzeit ein paar praktische Tipps: Der FAZ hat der Schriftsteller Joshua Cohen aus New York "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" geschickt: "Hier ist ein Tipp eines Schriftstellers, der schon vor Beginn dieser Pandemie viel zu Hause gesessen hat: Wer produktiv sein will, muss eine Hose anhaben."
Und Jan Kedves empfiehlt Clubgängern auf Entzug die Seite unitedwestream.berlin mit Live- Streams aus Berliner Clubs. Fürs Clubgefühl zu Hause schlägt er vor, sich, "wenn man Durst hat, eine Viertelstunde lang auf Zehenspitzen vor den Kühlschrank stellen und sich den Barkeeper, der einen ignoriert, dazu denken."
In der TAZ versteigt sich Uli Hannemann zu der Äußerung: "Ich persönlich fürchte mich weniger vor der Krankheit als vor Depression und Langeweile" – um dankenswerterweise hinzuzufügen: "Aber 'Ich persönlich' ist meistens nur ein Synonym für Arschloch. Wir haben nun mal nur 107 kompetente Lungenärzte für 28.000 Intensivbetten. Genau deshalb bin ich froh, dass für mich so entschieden wurde. Idioten, Hedonisten und Harthörige muss man zur Vernunft einfach zwingen."
Daran werden wir dann denken, wenn die Ausgangssperre kommt.