Stolzer Blick auf sich selbst
In Russland verherrlichen Künstler die eigene Nation, in Berlin feiern Literaten den 70 Jahre gewordenen Verleger Michael Krüger und in ganz Europa widersprechen sich die Lehren aus dem Ersten Weltkrieg.
Putin steht nicht allein – in Russland wird auf breiter Front in Literatur, Film und Kunst die eigene Nation verherrlicht, schreibt Ulrich M. Schmid in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. In der russischen Gegenwartskultur gibt es eine starke Bewegung von unten, die einen selbstbewussten Neoimperialismus propagiert, konstatiert der Autor und gibt zu bedenken, dass die westlichen Medien den Zeigefinger nicht nur auf den autoritären Präsidenten richten sollten.
Der Schriftsteller Alexander Prochanow beispielsweise entwickelt ein Gedankengebäude, in dessen Mittelpunkt Russland als Imperium steht. Dieses folgt auf die Kiewer Rus, das Fürstentum Moskau, die Romanow-Dynastie und die Sowjetunion. Oder Michail Jurew. Er vertritt in seinen Romanen die Idee vom neuen eurasische Imperium, das die Tradition des Zarenreichs und der Sowjetunion fortführt. Schmid beschreibt die zum Teil kruden Vorstellungen der Künstler. Dabei spielt die gerade in Mode gekommene Mongolenbegeisterung Putin in die Hände: Er möchte eine Eurasische Union gründen, die an Wirtschaftskraft und politischem Gewicht nicht hinter der EU zurückstehen soll.
Mit Blick auf die 100. Wiederkehr des Ausbruchs des 1. Weltkrieges betrachtet Dominik Geppert, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn, in der Tageszeitung DIE WELT, das Projekt Europa. Er erinnert: Ohne die gemeinsame Erfahrung von Leid und Not im Krieg wäre die europäische Einigung nach 1945 nicht möglich gewesen. "Nie wieder Krieg" lautete die Formel, auf die sich Sieger und Besiegte verständigen konnten. Nun aber, findet er, dass die politischen Eliten in den verschiedenen Nationen Europas aus dem Krieg jeweils eigene Lehren für die Gegenwart ableiten: In Frankreich und Großbritannien bemühen sich die Regierenden, das Gedenken zur Stärkung des nationalen Zusammenhalts zu nutzen.
Keine gemeinsamen Werte in Europa
Das Aufgehen in einem supranationalen Staatswesen ist aus dieser Sicht schwer vorstellbar. In Deutschland hingegen betont man eher die negativen Seiten der eigenen Vergangenheit. Man setzt auf den radikalen Bruch, nicht auf die Kontinuität der nationalen Geschichte. In dieser Perspektive erscheint die Aufhebung der Nationalstaaten in einem vereinten Europa als attraktiver Gedanke. Geppert aber meint: In einer Zeit intensiver globaler Verflechtung wächst das Misstrauen zwischen den europäischen Völkern, denn seit 2010 ist in Europa wenig von gemeinsamen Werten, aber viel von unterschiedlichen nationalen Interessen zu spüren.
Dem fügt er eine Warnung hinzu: Was vor 100 Jahren in die Katastrophe führte, war nicht zuletzt die Überzeugung vieler Militärs und Staatsmänner, dass Krieg unvermeidlich sei. Geppert empfiehlt: Dem Alternativlosen misstrauen! Wer die derzeitige Europapolitik für alternativlos erklärt, engt sein Sichtfeld ähnlich ein. Ein solcher Tunnelblick könnte am Ende das gesamte Projekt der europäischen Einigung gefährden.
Staatspolitik, fast privat, hat sich an diesem Wochenende in Berlin zugetragen, und darüber berichten sowohl DIE WELT als auch die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG. Knuffen, Puffen, Tätscheln überschreibt Gustav Seibt seinen Bericht von der Krüger-Party bei Gauck, wie das Ereignis von Richard Kämmerling genannt wird. Der Bundespräsident hatte zu "Einem Abend für Michael Krüger" ins Schloss Bellevue geladen und das, wie berichtet wird, ziemlich vollständig erschienene Literatenvölkchen Berlins feierte den Verleger Michael Krüger zum Abschluss seiner Zeit bei Hanser und zu seinem 70. Geburtstag noch ein allerletztes Mal.
Kämmerling zeichnet in der WELT ein lebendiges Bild vom Geschehen: Joachim Gauck, präsidial-jovial wie ein geübter Conférencier, war anzumerken, wie sehr er die temporäre Umwidmung seiner edlen Repräsentationssäle zum Lyrikkabinett genoss. Eine Win-win-Konstellation: Literatur wird selten eine so hohe Würdigung zuteil, umgekehrt beherbergt auch das Schloss Bellevue nicht jeden Tag so viel intellektuellen Glanz. Hoffentlich weiter so, liegt einem da auf der Zunge.