Tarantino verdirbt in Cannes die Laune
Vom "Tod des Kinos" spricht Regisseur Tarantino in Cannes. Die Festivalauswertungen in der "Welt" und der "FAZ" fallen ganz unterschiedlich aus. In der "SZ" und der "FAZ" geht es um die deutsche Russophobie, die EU-Wahl kommt kaum vor.
"Es war so ein schönes Festival", seufzt in der WELT Hanns-Georg Rodek, "das 67. in Cannes, mit hoch respektablen Filmen und dem ersten türkischen Palmengewinner. Und dann kam am Ende Quentin Tarantino und verdarb einem die Laune."
Womit? Indem er die Tatsache, dass es kaum noch Filme auf Zelluloid gibt, als "Tod des Kinos“ bezeichnete. "Darüber lässt sich diskutieren", schreibt der WELT-Korrespondent, tut es aber gar nicht, was ein weniger gut gelaunter Pressebeschauer als unfreiwilliges Statement zum Zustand des deutschen Feuilletons werten könnte, sondern berichtet lediglich, wer was gewonnen und wie überraschend er das jeweils gefunden habe.
Gute Laune hat Verena Lueken, die für die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG aus Cannes berichtet, nicht im Mindesten empfunden, und schön fand sie das Festival auch nicht. Für sie gibt es überhaupt nur einen "einzige(n) Film in diesem Festival, der wirklich zählt", nämlich "Eau Argentée“, eine Montage aus Augenzeugenvideos aus dem syrischen Bürgerkrieg.
"Wer 'Eau Argentée' gesehen hat, wird diese Bilder nie mehr los."
Meinungsschlacht um Russland
Während in Cannes das Festival zu Ende und in Syrien der Bürgerkrieg weiter geht, wählt Europa ein neues Parlament, wofür sich die Feuilletonisten an diesem Tag indessen kaum interessieren.
Gewählt, und zwar in für ganz Europa schicksalhafter Weise, wird auch in der Ukraine, und auch dies kommt in den Feuilletons nicht wirklich vor. Umso mehr Raum beansprucht ein anderes Land, das nicht zu Europa gehört. Oder doch? Es geht um Russland.
Gegen die "verhängnisvollen Traditionen der deutschen Russophobie" zieht in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG der Historiker und ehemalige Leiter des deutsch-russischen Museums in Berlin-Karlshorst, Peter Jahn, in die mediale Meinungsschlacht. Seit eineinhalb Jahrhunderten sieht er in der deutschen Medienöffentlichkeit "ein Russlandbild"am Werk, "das von der Gewissheit deutscher Überlegenheit (…) geprägt"sei. Russland werde als "grundsätzlich expansiv und imperialistisch, als nichteuropäisch charakterisiert."
Aber stimmt das denn nicht? Ein Russe, der Schriftsteller Viktor Jerofejew, gibt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zur Antwort: Das stimmt vollkommen. Den westlichen Glauben, "Russland sei ein europäisches Land, das sich vom Kommunismus verabschiedet hat und nun, wenn auch nicht ohne Mühe, seinen Platz in der europäischen Zivilisation finden wird", bezeichnet Jerofejew als "Illusion". In der Begeisterung des russischen Volkes für die Annexion der Krim habe sich dessen "wesentliche Wertvorstellungen" offenbart:
"Es liebt den Sieg, es teilt archaisch die Welt auf in eigene Leute und Fremde, es respektiert den Machtkult, seine eigene Wahrheit steht über allen internationalen Gesetzen. Das Volk ist besser als alle anderen, in jeder Beziehung."
Großmeister der Theaterkritik
Und in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG ergänzt der Historiker Dan Diner, vor welchem geschichtlichen Hintergrund vom Krim-Krieg bis heute sich die in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG gebrandmarkte angebliche Russophobie entwickelt hat. Wie im 19. Jahrhundert wähne sich Russland "vom Westen derart politisch bedrängt und drangsaliert (…), dass es letztlich nicht nur seiner Macht, sondern auch seines traditionellen Selbstverständnisses verlustig gehe."
Und Deutschland müsse sich angesichts der russischen Geopolitik, wie schon 1945-49 und 1989/90, entscheiden, ob es "seiner Integration in den Westen die Treue wahrt oder an der Seite Russlands neue Wege zu gehen gehalten sein wird. Diese Lage wurde in der Geschichtsschreibung übrigens als Krim-Kriegs-Situation bezeichnet."
Zuletzt wären wir jetzt gern noch auf Gerhard Stadelmaiers kleine Glosse in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zu Yasmina Rezas in Frankfurt neuinszeniertem Klassiker "Kunst“ eingestiegen, aber dafür reicht leider die Zeit nicht mehr, wohl aber für eine kleine, abschließende Kostprobe Stadelmaierscher Metaphorisierungskunst: "Eine Eleganzschlenderei über den Boulevard", nennt der Großmeister der Theaterkritik Yasmina Rezas Stück, "dessen Asphalt aus einer hauchdünnen, federnden Tragödienkruste besteht."