Tocotronic forever
Einst sang Tocotronic "Pure Vernunft darf niemals siegen". Aktuell ist die Gruppe wieder auf Tour. Anlass genug für die "Berliner Zeitung" eine Lobeshymne auf die viel zitierten Hamburger anzustimmen: Eine "Band, die alle anderen deutschsprachigen Bands entlarvt".
Katmandu liegt in Trümmern, ein fürchterliches Erdbeben hat die Hauptstadt von Nepal zerstört, und zwei große deutsche Zeitungen fragen sich zwei ganz unterschiedliche Fragen: Was ist da passiert? Fragt die FAZ. Was hat das mit mir zu tun? Fragt die WELT.
"Auch die Götter sind obdachlos geworden", ist der Artikel in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG überschrieben, gemeinsam verfasst von dem Architekturhistoriker Niels Gutschow, dem Geographen Marcus Nüsser und dem Indologen Alex Michaels.
Sie erzählen, was passiert ist, "dass sich die indische Erdplatte langsam in die eurasische Platte hineinschiebt, jedes Jahr mit einer Geschwindigkeit von einigen Millimetern", dass die fünf Millionen Bewohner des Katmandu-Beckens "gegen derartige tektonische Großereignisse (…) völlig unzureichend gewappnet" waren, all die zerstörten Pagoden und Paläste erfährt man mit Namen und zuletzt auch, wo in Nepal selbst die Ursache der Katastrophe vermutet wird – dass nämlich
"in Lamjung, dem Epizentrum, am Tag vorher eine große Schlange getötet worden sei. Dies habe die Götter erzürnt. Es ist an den Nepalern, die Götter wieder zu beschwichtigen, und es ist an uns, ihnen dabei zu helfen".
Das größte religiöse Fest "Indra Jatra" in Katmandu
In der WELT beschreibt unterdessen ein Romanautor namens Carl von Siemens in großer Ausführlichkeit, wie er Anfang der 90er-Jahre im Hippie- und Drogenparadies Katmandu weilte, während des Indra Jatra, des größten religiösen Fests des Jahres, von dem er aber wegen eines
"hartnäckigen, überaus unangenehmen Infekt des Magen-Darm-Trakts"
nicht viel mitbekam. Dies und andere Possen und Reminiszenzen bekommt man unter der erfrischend schlichten Überschrift "Auch ich war in Kathmandu" mitgeteilt, und das Ganze liest sich so schnell und flüssig weg, wie man es vom WELT-Feuilleton kennt und erwartet.
Flüchtlinge und die Empathie der Deutschen
"Empathiefähigkeit" bzw. den Mangel der Deutschen an derselben ist indessen ein Thema, dessen Behandlung man von der TAZ erwartet, und diese Erwartung erfüllt an diesem Tag Sonja Vogel in einer kleinen Kolumne.
"Schrebergartenradius" habe die Empathiefähigkeit der Deutschen, die "nach 1000 ertrunkenen Menschen" im Mittelmeer sehr "für Mare Nostrum" sind und "gegen Frontex. Eigentlich. So im Allgemeinen".
Aber im Konkreten, wenn es um die Aufnahme der Flüchtlinge geht, dann doch "Massenunterkünfte jwd, in der brandenburgischen Pampa, ja ganz okay" finden.
Warum in Hamburg die Schulreform einst scheiterte
Das Referendum zur Schulreform in Hamburg habe das links-grüne Bürgertum auch scheitern lassen, nimmt die TAZ-Kolumnistin ihre eigene Leserschaft ins Gebet, und warum?
"Weil ihnen der Arsch näher ist als der Kopf – und das Herz. Weil gleiche Möglichkeiten für alle nur okay sind, wenn die eigenen Privilegien gesichert bleiben."
Das ist zwar nicht besonders differenziert, aber dafür ehrlich gefühlt, und das ist ja schon mal was.
"Was bleibt", so fragt die TAZ-Kolumnistin zuletzt? "Das Ressentiment. Das ist auch ein großes Gefühl, vielleicht sogar das größte unserer Zeit. Eine emotionale Aufwallung, irgendwie total fehlgeleitet, kurz vor dem Mitgefühl falsch abgebogen eben."
Tocotronic bis zum Ende
Jetzt bleiben uns noch ein paar Momente, und die wollen wir, auf dass das Ressentiment nicht überhand nimmt, mit Tocotronic füllen, und zwar genau so, wie es Oliver Polack in der BERLINER ZEITUNG macht in seiner Liebeserklärung zum 20-jährigen Jubiläum dieser
"Band, die alle anderen deutschsprachigen Bands entlarvt." Wir werden einfach Songtitel vorlesen. Songtitel von Tocotronic, so lange, bis diese Sendung zu Ende ist.
"Samstag ist Selbstmord. Drüben auf dem Hügel möchte ich sein. Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk. Letztes Jahr im Sommer. Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein. Du bist ganz schön bedient. Ich mag Dich einfach nicht mehr so. Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört. Wir kommen um uns zu beschweren. Ich verachte Euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst. Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren. Ich möchte irgendetwas für Dich sein. Ich bin viel zu lange mit Euch mitgegangen. Für immer dein Feind. Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben. Morgen wird wie heute sein…"