Vom Leben in finsteren Zeiten
Bundespräsident Joachim Gauck hat kürzlich das helle Deutschland von "Dunkeldeutschland" abgehoben – und bezog dies auf den teils mitfühlenden, teils harsch ablehnenden Umgang mit Flüchtlingen. Die "FAZ" hält diese Rhetorik für Unfug und wünscht sich stattdessen eine Debatte über "Recht und Gesetz".
"Doitschland, die Liebe und das Polysinguläre", titelt die BERLINER ZEITUNG.
Und dass wir "Doitschland" so affektiert aussprechen, liegt daran, dass die BERLINER ZEITUNG dieses Land mit D-o-i schreibt.
Nimmt man die schnoddrige Unterschrift hinzu - "In Kat Kaufmanns Debütroman 'Superposition' gibt es voll was auf die Zwölf für den hässlichen Deutschen" – muss man vermuten, dass es um ein exaltiertes Buch geht.
Philipp Idels Zwischen-Resümee über das Werk der in Petersburg geborenen Autorin lautet:
"Noch so ein Roman, in dem es um den Narzissmus und die Neurosen von Künstlern und Kreativen geht, die einfach nicht erwachsen werden wollen; erzählt in einem Tonfall, der ununterbrochen zwischen Gosse und Vice-Magazin, Ich-fick-deine-Mutter-Slang und dem üblichen popkulturellen Gerede changiert – wobei die Gosse überwiegt."
Warum Idel zwei Spalten weiter Kaufmanns "Superposition" trotzdem ein "manchmal herausragendes Buch" nennt und warum das erwähnte "'Polysinguläre'" mehr ist als ein flottes Paradox – das lesen Sie in der BERLINER ZEITUNG bitte selbst nach, liebe Hörer.
Wir wollen der Debütantin nämlich keinesfalls durch übertriebene Aufmerksamkeit zu viel Honig um ihren anziehenden Schmollmund schmieren.
Außerdem fällt uns in der BERLINER ZEITUNG noch so ein orthografisches Unikum von Überschrift auf.
"Futsch un vorbai" – "vorbai" mit a-i am Ende - steht über Christian Egers Besprechung von Günter Grass‘ posthumem Werk "Vonne Endlichkait", ebenfalls mit a-i am Ende.
"'Vonne Endlichkait' [so Egers] ist kein Lamento, sondern ein unsentimentaler Report aus der Todeszone. Die Mitschrift eines schwindenden Lebens, das bis zuletzt versucht, die Hoheit über sich selbst zu behaupten. Und über den eigenen Ort, der nicht Tribüne, sondern immer Werkstatt war […]. Nie war Günter Grass ein intellektueller Schriftsteller, sondern einer, der mit der Hand arbeitet, fühlt, denkt und schreibt. Dem Sechsjährigen wurde 1934 das Schreiben mit der rechten Hand aufgezwungen. Den Krückstock fasste der Alte links",
erzählt Christian Egers sehr schön in der BERLINER ZEITUNG.
Apropos 'schön'!
"Kein Make-up für Gesicht und Geist" – brauchte nach Ansicht der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG die Schauspielerin Ingrid Bergmann, die vor einhundert Jahren geboren wurde.
"Sich niemals festlegen lassen, immer wieder aufbrechen […], immer wieder neue Rollen erproben – das macht Ingrid Bergmann für ihre Zeit so unkonventionell. Die grosse Liebende, die sie in immer neuen Schattierungen gespielt hat, war eben nie die brave Ehefrau, die Hausfrau und Mutter – auch wenn [der Produzent David] Selznick und Hollywood ihr Möglichstes getan haben, sie auf dieses Rollenprofil einzuschwören",
erläutert Christina Tilmann.
Und gern würden wir die NZZ-Autorin weiter erzählen lassen, von Bergmanns Ehe mit Roberto Rossellini, von ihren Liebschaften mit Robert Capa und Gary Cooper, fragen uns jedoch, ob jungen Hörern Ingrid Bergmann überhaupt ein Begriff ist, ob sie je "Casablanca" gesehen haben oder ob das alles auch schon der verlorenen Zeit angehört.
Darum abrupt zurück ins Jetzt.
In der TAGESZEITUNG denkt Anja Maier über die fremdenfeindlichen Vorfälle der letzten Wochen etwa in Heidenau nach.
"Man muss sich nichts vormachen. Zwar kann man sich die Boshaftigkeit der Rechten erklären: Sie ist Ausdruck ihrer eigenen Angst vor dem Unbekannten. Aber unbekannt ist der Bürgergesellschaft eben auch die neue Brutalität von Mitterechts. Das Gebrüll und Gekeife, das dumpfe rechte Vokabular, die grassierende Gewalt - das macht Angst. Wenn dieser Tage also gefragt wird, wo denn die Heidenauer Demokraten stecken: Sie sind da. Aber sie fürchten sich. [...] Und das ist wirklich beängstigend."
Bundespräsident Joachim Gauck hat vor diesem Hintergrund das helle Deutschland von "Dunkeldeutschland" abgehoben,
was Edo Reents in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG für Unfug hält:
"Statt in Gut-böse oder Hell-dunkel-Kontrasten zu reden, wäre es vernünftiger, einfach Recht und Gesetz anzuwenden."
Trotzdem ist sie nicht ganz falsch, die Diagnose, die der BERLINER ZEITUNG zur Überschrift dient und uns als trübes Schlusswort:
"Wir leben in finsteren Zeiten."