Vom Schreddern und dem endlosen Sommer
Der geniale Coup von Banksy, ein Kunstwerk durch Zerstörung wertvoller zu machen, hallt noch durch die Feuilletons. Auch wenn die "Süddeutsche Zeitung" meint, der Künstler habe mit dem Werk auch seine Glaubwürdigkeit geschreddert.
Zu den Feuilletons gleich, vorab eine Szene aus unserer Straße in Nord-Neukölln:
Dort weht der Wind dieser Tag leuchtend gelbe Blätter von den Bäumen herab, und die Blätter sprenkeln die Blechmäntel der parkenden Autos, als wäre eine monochrome Konfetti-Parade vorübergezogen.
Doch die Luft ist nicht kühl und nicht lau, sie ist warm; es herrschen Temperaturen, die jeden Augusttag stolz machen würden. Ja, die Bäume tun, was Bäume jetzt eben tun müssen – das Wetter aber spottet ihrer Entkleidung.
Der unerhörte Sommer 2018
Deshalb konnten wir der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG nur zustimmen, als sie titelte: "Er ist sehr groß" – nicht etwa, mit Rilke, "Er war sehr groß". Nämlich dieser Sommer, dessen unabsehbares Ende in den Winter fallen könnte – wie uns manchmal durch den Kopf geht.
Der FAZ-Autor Rainer Hank schrieb alles Mögliche über den unerhörten Sommer 2018 und drückte sein Empfinden am deutlichsten in dem Satz aus, der uns wiederum am besten gefiel: "And the livin is easy: Welch eine Sommer!" Atmosphärisch unzugänglich erschien uns dagegen in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG die Behauptung: "Schon wieder ist ein Sommer vorbei."
Sonnentrunkene Herbstgedanken
Denn so ist es ja gerade nicht. Dafür müsste erst einmal dieses Licht verschwinden, diese Wärme, dieses Nicht-enden-Wollen – kurz: dieser zauberhafte Selbstwiderspruch der Natur. Allerdings wirkten die Herbst-Gedanken der NZZ-Autorin Andrea Köhler durchaus noch sonnentrunken. Vom inneren November fanden wir auch bei ihr kaum eine Spur. -
Aber bitte! Sie erwarten, hier von etwas anderem zu hören als von Wetterseligkeit …
Kommen wir also zu #MeToo, der Aufklärungskampagne über sexuellen Missbrauch, die nun seit einem Jahr andauert. "Es ist Krieg", posaunte die Wochenzeitung DIE ZEIT, in der die Soziologin Eva Illouz keinen Zweifel am Erfolg von MeToo zuließ: "Mit Ausnahme der Suffragettenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts, in der britische Frauen aus allen Klassen unter Führung von Frauen aus der Ober- und Mittelschicht das Wahlrecht forderten, hat es keine Bewegung gegeben, die Frauen so eindeutig geeint hat wie #MeToo. Denn es gibt eine Conditio femina, die alle Grenzen von Klasse und Rasse übersteigt. […] #MeToo hat vor Augen geführt, was die feministische Juristin Catharine MacKinnon […] vor vierzig Jahren aufdeckte: die zentrale Bedeutung der Sexualität für das Gesamtsystem der Unterdrückung von Frauen. In allen Klassen werden sie über ihre Sexualität beherrscht." Eva Illouz in der ZEIT.
#MeToo in die Zukunft gedacht
In der Wochenzeitung DER FREITAG dachte Andrea Roeding darüber nach, was #MeToo für die Zukunft bedeuten könnte. "Es geht darum, ein feudales Modell der Geschlechterverhältnisse gegen ein demokratisches auszutauschen – das mag manchen unsexy erscheinen, aber sei’s drum, wir könnten die Sexualität, oder besser noch Eros, ja auf andere Weise wiederbeleben. #MeToo war ein [Umschlagspunkt[ […]. Die wahre utopische Revolution läge aber darin, geschlechtliche Rolle und gesellschaftliche Macht komplett zu entkoppeln. Erst wenn Sex keine Währung mehr sein kann, um irgendetwas zu bezahlen, wird er zum freien, schönen Spiel." Gedanklich schon weit voraus: Andrea Roeding im FREITAG.
Zur Abwechslung mal etwas Praktisches: Unabhängig von MeToo erklärte der Karrierecoach Peter Modler in der TAGESZEITUNG, wie sich Frauen – gerade in Führungspositionen – bei sexistischen Verbal-Angriffen zur Wehr setzen sollten:
"Regel Nummer 1: Nicht lächeln. Regel Nummer 2: Pausen machen."
Denn merke, so Modler in der TAZ: "Eine Pause [bedeutet] Macht. ‚Potent silence‘ sagt man im Amerikanischen. Das ist sehr wichtig, weil das Hirn der Angegriffenen [Frauen] meist auf Höchsttouren losrattert und gleich etwas produzieren will: Warum macht der das? Was hab ich dem getan? Was ist mit dem los? Was denken die anderen? Sie brauchen [aber ] nur eines verstehen: Hier findet ein Angriff statt. Wie wehre ich den ab?"
Psychologisch ausgepicht: Peter Modler in der TAZ.
"Frauen, die Sie kennenlernen sollten" - stellte die WELT vor. Die ambitionierte Dachzeile lautete: "Ein weiblicher Kanon zur [Frankfurter] Buchmesse". Zu diesem sollen bekannte Schriftstellerinnen wie Maria Sibylla Merian und Ricarda Huch und weniger bekannte wie Lucia Berlin und Clarice Lispector gehören.
Unsere Aufzählung nützt Ihnen, liebe Hörer, leider nicht allzu viel, weil für die Begründungen hier kein Platz ist…
Trost im Lesen finden
Dafür aber für die Worte der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, die in ihrer Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse laut SZ "für eine Ausweitung der Definition von Nützlichkeit" plädierte: "Ich lese, um getröstet zu werden. Und um an Liebe, Schönheit und Leid erinnert zu werden. All das ist nützlich."
Tja, ob auch der Coup des Street-Art Künstlers Banksy nützlich war?
Kaum hatte sein Werk "Girl with Balloon" auf der Versteigerung bei Sotheby’s in London für 1,2 Millionen Euro einen Käufer gefunden, schredderte es sich per eingebautem Mechanismus selbst. In der WELT erklärte Frédéric Schwilden, die Aktion sei keineswegs originell, sondern habe Vorläufer in der autodestruktiven Kunst der 1960er Jahre,…
Und rechnete schlecht gelaunt mit Banskys gesamtem Oeuvre ab: "Hat man den einen Gedanken in einem Banksy-Bild innerhalb der ersten Hundertstelsekunde der Betrachtung verstanden, geht das Werk in Rauch auf, weil da nichts mehr ist. Seine Arbeiten sind immer der am nächsten liegende Kommentar zu gesellschaftlichen Themen wie Krieg, Diskriminierung, Konsum, Kapitalismus oder der Situation afrikanischer Jutebauern in der Südostschweiz. Jemand wie Banksy trägt eine massive Mitschuld daran, dass Menschen gemeinhin glauben, dass jegliche Form von Aktivismus Kunst sei."
Geschredderte Glaubwürdigkeit
Die SZ übrigens konnte der Schredderei auch nichts abgewinnen: "Mit der Glaubwürdigkeit hat Bansky nun ein Problem: Wer dem Kunstmarkt zu neuen Hypekapriolen verhilft, dem nimmt man nicht recht ab, dass er dieses System in Wahrheit bekämpfen will."
Okay, das war’s. Falls Sie noch wissen wollen, wie wir die kulturelle Lage im großen Ganzen einschätzen, antworten wir Ihnen mit einer TAZ-Überschrift: "Ganz einfach herrlich kompliziert."