Aus den Feuilletons

Von der Sehnsucht, das Eigene hinter sich zu lassen

Deutschland-Fahnen wehen an fahrenden Autos.
"Umwege erhöhen die Ortskenntnis", schreibt die WELT, denn wer verharre, "entfremdet sich auf diese Weise auch der eigenen Nation." © dpa/picture alliance/Sebastian Widmann
Von Arno Orzessek |
Die Heimat-Schwärmerei der Rechten knöpft sich die "Welt" vor und pocht auf das alte Sprichwort: "Umwege erhöhen die Ortskenntnis". Neugierig auf fremde Eindrücke zu sein, das bedeute Deutschsein eben auch.
"Es hat alles gar keinen Sinn", seufzt in großen Lettern die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. Stellt aber in Wirklichkeit gar nicht "alles" unter Sinnlosigkeitsverdacht, sondern nur die am Sonntag beendete Fußball-Europameisterschaft und deren Rezeption.
"Das Leben ist zu kurz, um 570 Minuten lang auf ein Tor von Thomas Müller zu warten", mosert der Fernsehcouch-Existenzialist Jürgen Kaube und plädiert für einen radikalen Umsturz unseres Daseins.
"Aus der Europameisterschaft müssen jetzt sofort die richtigen Schlüsse gezogen werden. Und im Grunde kann es nur einen einzigen richtigen Schluss geben: Die Nationen müssen endlich abgeschafft werden. Denn nur, wenn es keine Nationen mehr gibt, gibt es auch keine Nationalmannschaften mehr. Und nur, wenn es keine Nationalmannschaften mehr gibt, bleibt uns künftig erspart, wovon wir jetzt vier Wochen lang Zeugen waren."
Kaube fand also gar nicht amüsant, was in Frankreich auf dem grünen Rasen vorgetragen wurde. Trotzdem hat sich der FAZ-Autor längst nicht nur die deutschen Spiele angesehen, wie seine Detailkenntnis vom Turnierverlauf beweist.
Und das bringt uns auf Alain Badiou, den französischen Philosophen, Mathematiker und Schriftsteller. Auch Badiou findet am Fußball vieles ausgesprochen widerwärtig – und ist doch fasziniert, wie er in der BERLINER ZEITUNG einräumt.
"Der Fußball ist ein schreckliches, kommerzielles Feld. Das Geld, das hier fließt, ist unglaublich. Mein großes Interesse ist durchdrungen von vielen Verdachtsmomenten. Was ich am Fußball mag, das sind die kleinen Momente, in denen Kraft und Energie auf einen Zufall treffen. Ein Ball, der sich wie von allein ins Tor schiebt. Darin liegt eine große Schönheit. Auch in den Kombinationen. Und im Wunder des Torschusses."
So Alain Badiou in der BERLINER ZEITUNG.

Gegen die Heimat-Schwärmerei

Und nun kein einziges Wort mehr über Fußball, obwohl die Überschrift in der Tageszeitung DIE WELT – "Wo ich nicht bin, da ist das Glück" – ohne weiteres von einem französischen Endspiel-Verlierer stammen könnte.
Tatsächlich handelt sich jedoch um die Variation einer Goethe-Sentenz. Und worum es in dem WELT-Artikel geht, erschließt sich aus der Unterzeile:
"Alle reden gerade von Heimat. Aber Entwurzelung ist auch ganz schön. Unsere Kultur beruht auf der Sehnsucht, das Eigene hinter sich zu lassen."
Um seine These zu belegen, holt der WELT-Autor Tilmann Krause zwei, drei Jahrhunderte weit aus und knöpft sich schließlich die Heimat-Schwärmerei der Rechtskonservativen und Rechtsnationalen vor.
"Umwege erhöhen die Ortskenntnis – auch so ein schönes altes deutsches Sprichwort. Wer immer nur in seinem Tal der Ahnungslosen verharrt (und handle es sich dabei um eine kulturell so reiche Stadt wie Dresden), kann nur in ressentimentgeladener Abwehr des anderen enden. Und die Pointe davon ist: Er entfremdet sich auf diese Weise auch der eigenen Nation. Denn Deutschsein, das bedeutet eben auch dieses (mit Richard Wagner zu sprechen): um seiner selbst willen tun: Neugierig auf fremde Eindrücke sein, woher sie auch kommen mögen."
So Tilmann Krause in der WELT.

Pop und Transgender

Soweit Sie beim Zeitungslesen die Langstrecke mögen, liebe Hörer, ist die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG immer ein guter Tipp. Man schätzt dort den ganzseitigen Artikel.
Der neueste heißt "Zwischen den Ufern" und erklärt, "wie Transgender-Erfahrungen die Rollenspiele und die Genre-Mischformen der Pop-Kultur beeinflussen."
Kaum nötig zu sagen: Das ist ein überaus weites Feld, auf dem man Lou Reed und David Bowie, Miley Cyrus und dem Roman "Middelsex" von Jeffrey Eugenides begegnet. Wir aber können nicht einmal die erste Furche abschreiten, denn schon nötigt uns der Sekundenzeiger, rasch ans Ende zu kommen.
Und das tun wir mit zwei erstaunlich frohgemuten Gedichtzeilen von Michel Houellebecq, dem Hohepriester des Weltekels – zitiert in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.
"'Es gibt, mitten in der Zeit,
Die Möglichkeit einer Insel.'"
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