Warum ist Habermas nicht auf Twitter?
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Wenn ein öffentlicher Intellektueller, Philosoph und Soziologe wie Jürgen Habermas 90 wird, drehen sich die Feuilletons natürlich nur um ihn, sein Werden und Wirken. Die SZ fragt sich, warum Habermas keine sozialen Medien nutzt.
"Wer heute neunzig wird", schreibt Jürgen Kaube in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, "war fünfzehn, als der Krieg noch tobte". Kaube meint den einen Neunzigjährigen dieser Tage: Jürgen Habermas.
"Mit achtzehn erlebte Habermas die Verwirklichung des Marshall-Plans und die Gründung Israels, mit zwanzig diejenige der Bundesrepublik. Als er zum ersten Mal wählen durfte, war er vierundzwanzig, und es gab schon, was sie das Wirtschaftswunder nannten. Die Auseinandersetzung mit dem Erbe der NS-Vergangenheit und den diskutierbaren Eindruck, dass es nach 1945 in Deutschland keinen Mentalitätswandel gegeben habe, hat er als Grundthemen seines erwachsenen politischen Lebens bezeichnet."
Kaube fährt fort:
"Die Unfähigkeit nicht nur zur Trauer, sondern die Unfähigkeit zu lernen war in Gestalt des für ihn zunächst maßgeblichen Philosophen Martin Heidegger kaum zufällig der Anlass jener Rezension in dieser Zeitung, die ihn schon als Studenten bekannt machte."
"Mit Heidegger gegen Heidegger denken"
Die FAZ-Rezension, auf die Kaube anspielt, nimmt Jens Bisky in der SÜDDEUTSCHEN zum Anlass für seine Habermas-Würdigung – und ein bisschen auch für die Würdigung des Feuilletons als Publikationsorgan von Relevanz:
"Plato hat den Philosophen bekanntlich Königsstellen zugedacht. Besser war es meist, wenn sie fürs Feuilleton schrieben, so etwa der Student Jürgen Habermas. Ende Juli 1953 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung seinen Artikel ‚Mit Heidegger gegen Heidegger denken‘."
Heute kann man in den Feuilletons dabei zusehen, wie mit Habermas gegen, für, über und über Habermas hinaus gedacht wird. Jürgen Kaube etwa schaltet zum besseren Verständnis eine ganze Reihe von Verneinungen hintereinander:
"Auch wenn es mit der Vernunft, dem Konsens als Wahrheitskriterium und der Identität nicht so weit her sein mag, ist das kein Grund, Jürgen Habermas nicht dankbar zu sein für ein Werk, das uns insistent Gründe dafür abverlangt, weshalb wir es anders sehen."
Gemeinsame Sprache der Vernunft
Regina Kreide, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte, erklärt bereits Habermas‘ "Erbe" – das, meint sie, sei ein tröstendes:
"Gegen Technokratie und Entdemokratisierung, gegen Terror, Gewalt und Unterdrückung setzt Habermas die gemeinsame Sprache der Vernunft. Auf sie, und das ist das Tröstende seines Erbes, können wir vertrauen."
Angelika Brauer erzählt in der NZZ autobiographisch von "Fünf Versuchen, mit Jürgen Habermas zu kommunizieren". Fazit:
"Wer sich verständigen will, muss sich zuerst über den Modus der Verständigung verständigen", während die SÜDDEUTSCHE dem Jubilar gleich den Löwenanteil ihres Feuilletons widmet – was ja vielleicht auch naheliegt, geht es diesem Denker doch um das "Prinzip der Publizität".
Dabei stellt Johan Schloemann fest: "Jürgen Habermas ist nicht auf Twitter. Auch nicht bei Facebook, Instagram oder YouTube. Er hat auch keine Website. Warum eigentlich nicht?", fragt Schloemann.
"Ist Habermas nicht auf der ganzen Welt anerkannt als der Philosoph, der die Öffentlichkeit zum Zentrum der Demokratie erklärt?"
Sind, fragt sich da unweigerlich, Twitter, Facebook, Instagram und YouTube womöglich gar nicht die adäquate Darstellung der Öffentlichkeit unserer Tage?
Das Cambridge Habermas Lexicon
Habermas wird auf seine Weise öffentlich 90 – er hält einen Vortrag. Titel: "Noch einmal: Zum Verhältnis von Moral und Sittlichkeit". "Außerdem", berichtet die SÜDDEUTSCHE weiter, "muss er eine frisch erschienene Enzyklopädie lesen: über sich selbst" – das Cambridge Habermas Lexicon.
"Die rund 200 Einträge des Wörterbuchs reichen von ‚Aesthetics‘ bis ‚World Disclosure‘. Sogar Peter Sloterdijk, der Habermas einmal als den ‚Starnberger Ajatollah‘ bezeichnet hat, kriegt ein eigenes Lemma. Ein Habermas-Lexikon", zitiert Johan Schloemann den Gegenstand des Lexikons, "mache ihn ‚nervös‘, aber vielleicht sei so etwas doch ‚keine schlechte Idee‘, denn er selbst habe – so behauptete er – erst, als er vor einigen Jahren die Einleitungen zu der fünfbändigen Studienausgabe seiner Aufsätze schreiben musste, überhaupt einmal eine Idee davon bekommen, ‚wie meine Sachen zusammenhängen könnten‘."
Glücklicher Jubilar, der das künftig in einem Lexikon nachschlagen kann, anstatt es sich selbst noch einmal überlegen zu müssen.