Aus den Feuilletons

Warum "Woke" nicht links ist

04:16 Minuten
Ein Stand am Rand einer Demo gegen systemischen Rassismus und Polizeigewalt in Washington D.C. Ein Aktivist trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Stay Woke".
Der Moralismus der "Woke"-Aktivisten verkenne die historische Instrumentalisierung der Moral als Mittel der Unterdrückung, schreibt "Die Welt". © imago-images / Zuma-Wire / Amy Katz
Von Arno Orzessek · 12.02.2021
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Der Dramaturg Bernd Stegemann kritisiert in der "Welt" die "Woke"-Aktivisten. Sie seien nicht links, sondern reaktionär, weil ihr politischer Moralismus "lange ein Mittel der Unterdrückung war, um die sogenannten Unterschichten mundtot zu machen".
"Wir hatten die Fasnacht nie nötiger als jetzt!", titelt die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, ohne groß über die Pandemie zu lamentieren. Manuel Müller unterschlägt nicht, dass "die Fasnacht (auf den ersten Blick) ziemlich stumpfsinnig und kunstlos, ja sogar grob und gefährlich wirken" kann.
Er behauptet aber: "All der Irrsinn ist Programm, Absicht, Tradition – diese ganze ungeheure Groteske dient einem zugleich höheren und handfesten Zweck." Zum Beleg zieht der NZZ-Autor Müller den russischen Literaturtheoretiker Michael Bachtin heran.

Karneval als Moment der Utopie

Nützlich zu wissen: Bachtin schrieb in der Stalin-Ära so subversiv über die Vielstimmigkeit in Dostojewskis Romanen, dass man ihn in die Verbannung schickte. Auch seine Gedanken zum Karneval sind antiautoritär.
"Bachtin sagt es so: 'Der Karneval ist das zweite, auf dem Lachprinzip beruhende Leben des Volkes, er ist sein festliches Leben.' Was heisst das? Die Fasnächtler treten nach Bachtin eine Zeitlang in ein utopisches Reich ein, wo Freiheit, Gleichheit und Überfluss herrschen. Alle hierarchischen Verhältnisse seien dabei aufgehoben, es gebe keine Privilegien, keine Normen und keine Tabus mehr. Bei Bachtin lebt der Mensch im Karneval für einen Moment in der Utopie. Einmal im Jahr kann man den Himmel auf Erden holen."
Tja, vielleicht wieder im nächsten Jahr – falls denn der Karneval heutzutage noch Bachtin'schen Ansprüchen genügt. Konzentrieren wir uns nun auf die Gegenwart.

Reaktionäres Menschenbild

Die Tageszeitung DIE WELT führt mit dem Dramaturgen Bernd Stegemann "ein Gespräch über die Rückkehr der Moral und die Retribalisierung der Gesellschaft". Und darin lässt Stegemann kein gutes Haar an den "neuen Moralisten".
"Leider ist bei den woken Aktivisten das Wissen verloren gegangen, dass Moral lange ein Mittel der Unterdrückung war, um die sogenannten Unterschichten mundtot zu machen. Die Geschichte der Moral nicht zu kennen, ist ein regressiver Zug der neuen Moralisten. Deshalb unterscheide ich auch zwischen 'woke' und 'links': 'Woke' verfolgt eine moralistisch-regressive Politik, die mit links gar nichts zu tun hat. Sie hat ein reaktionäres Menschenbild und betreibt eine reaktionäre Politik."

Das schwache Geschlecht sind die Männer

Die interessanteste Frage des Tages wirft die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG auf: "Männer sind in der Pandemie gefährdeter. Warum werden sie nicht bevorzugt geimpft?" Nele Pollatschek erwähnt, dass beim Untergang der Titanic nur 20 Prozent der Männer überlebt haben und dass nun in Deutschland "ungefähr doppelt so viele Männer an Covid-19 gestorben sind wie Frauen".
Pollatscheks Folgerung: "Wenn wir bei diesen Zahlen männliche Priorisierung bei der Impfung nicht diskutieren, dann leiden wir noch an dem gleichen Sexismus, der die Titanic-Männer das Leben und Frauen jahrhundertelang das Wahlrecht kostete. Es kann sein, dass Männer nicht priorisiert werden können. Weil es nicht machbar ist, weil die Welt nicht fair ist. Aber man kann und muss uns allen einen Vorwurf machen, wenn wir nicht mal danach fragen. Oder wenn wir lächerlich finden, was sonst immer eine Selbstverständlichkeit ist: den Schutz der Schwachen. Die Schwachen, das sind in diesem Fall die Männer."
Der anspruchsvollste Pandemie-Artikel steht in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG und heißt "Unsicherheit durchschauen". Sibylle Anderl erklärt, inwiefern Entscheidungsfindungen zum Beispiel in puncto Lockdown oder Lockerung anhand von Modellberechnungen rational sein können, selbst wenn die Berechnungen mit großer Unsicherheit behaftet sind.
Und hier des Rätsels Lösung: "Wenn simulierte Zukunftsszenarien ein breites Spektrum zukünftiger Entwicklungen zwischen Best-Case- und Worst-Case-Szenario aufzeigen, sollte eine Entscheidungsstrategie auf Robustheit abzielen. Konkret heißt das: Die erwarteten Konsequenzen der gewählten Handlung sollten in einer möglichst großen Klasse von Szenarien akzeptabel sein. Man sucht nach Entscheidungen, die nie völlig falsch sind, egal wie sich die Ungewissheit auflösen mag." Okay, das war ein Zuckerl für die Abstraktionsliebhaber unter uns.
Und wie geht's nun weiter in Sachen Pandemie? Wir hoffen, dass jenes Karnevalslied recht behält, dessen optimistischste Zeile in der WELT als Überschrift dient: "Es is' bald widder gut."
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