Was steckt hinter dem Attentat von Orlando?
Das Attentat auf einen Gay-Club in Orlando hat in dieser Woche die Feuilletons bestimmt. Die Frage, ob der sogenannte Islamische Staat dahinter steckt oder ob den Mörder der Hass auf Schwule und Lesben angetrieben hat, beschäftigt viele.
Vorab eine erfreuliche Neuigkeit in puncto menschliches Miteinander.
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG stellte Tilmann Bünz fest, dass "die Niederländer auf einmal die Deutschen mögen und selbst darüber staunen."
"Es gibt derzeit ein Dutzend aktueller Bücher niederländischer Publizisten, die Deutschland offen und voller Sympathie beschreiben: als Land mit höflichen Menschen, schönen Landschaften wahlweise mit oder ohne Berge, leckerem Essen und einem aufgeklärten Blick auf die deutsche Vergangenheit. Man könnte fast rot werden",
bemerkte, offenbar leicht geniert, der SZ-Autor Bünz.
Ansonsten war von frischer Sympathie in den Feuilletons kaum die Rede - eher im Gegenteil.
"Woher kam sein tödlicher Hass?", fragte die Wochenzeitung DIE ZEIT in großen blutroten Lettern neben einem kleinen Schwarz-Weiß-Foto von Omar Mateen, dem Massenmörder von Orlando, der in dem Club 'Pulse‘ 49 Menschen getötet hatte.
Thomas Assheuer machte "Anmerkungen zu dem Phänomen der terroristischen Ich-AG" und wollte sich mit der Standardthese - der Islam sei halt eine archaische Opferreligion und als solche die Ursache des Terrors - nicht zufrieden geben.
Vielmehr machte der ZEIT-Autor das Internet als "perfektes Abbild der chaotischen Weltgesellschaft" für Fehlentwicklungen mitverantwortlich.
"Auf der einen Seite schärft [ ... ] [der Cyberspace] das Bewusstsein dafür, wie eng die Welt verwoben ist und wie abhängig alles von allem ist. Auf der anderen Seite aber provoziert die digitale one world massive Abwehr und Abgrenzungen. Und die radikalste Abwendung besteht in der Absonderung von Hass. [ ... ] Der Ausstoß von Hass säubert den Weltkampfplatz, er macht ihn übersichtlich [ ... ]. Hass zieht Grenzen; er benennt einen Feind, beseitigt Unschärfen und verschafft dem Einzelnen das Gefühl einer Gegenmacht."
Rätselraten um das Motiv des Attentäters von Orlando
Unter dem Titel "Es gibt keinen privaten Hass" beteiligte sich in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Jürgen Kaube am Rätselraten über das Motiv Mateens. Und beleuchtete die übergeordnete Strategie des IS, zu dem sich Mateen bekannt hatte:
"Tatsächlich darf man sich den IS nicht unpolitisch vorstellen. Wer von einer gesellschaftlichen Endschlacht zwischen dem Guten und dem Bösen träumt, muss zuvor dafür sorgen, dass die Gesellschaft selbst von allen als zweigeteilt wahrgenommen wird. Die Unterscheidung der Ungläubigen von den Rechtgläubigen setzt voraus, dass es dazwischen keine Mehrheit von mal Recht-, mal Ungläubigen, Gleichgültigen, Skeptischen, Toleranten, Unentschiedenen gibt, gewissermaßen keine religiöse, moralische und politische Mittelschicht. [ ... ] Dem IS ist [ ... ] vor allem an Islamophobie gelegen."
Während Jürgen Kaube davor warnte, die Bluttat mit dem persönlichen Hass Mateens auf Homosexuelle zu erklären, machte Martin Reichert in der TAGESZEITUNG unter dem Titel "Gemeint waren wir" genau das:
"Ja, der Angriff auf das 'Pulse‘ war auch ein Anschlag auf die offene Gesellschaft, auf Menschen, die Minderheiten Luft zum Atmen geben möchten, sie akzeptieren, anstatt sie bloß zu tolerieren. Wirklich ermordet werden sollten aber LGBTTIQ*-Menschen, weshalb der Attentäter ja auch über hundert Kilometer gefahren ist, um speziell diese zu ermorden."
Kleiner Service unsererseits: "LGBTTIQ*" steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual, Transgender, Intersex und Queer.
Das letzte Wort zu diesem Thema soll Ahmad Manour haben. Der Psychologe schrieb am Ende der Woche im Berliner TAGESSPIEGEL:
"Nach dem Massenmord von Orlando hieß es: Das hat nichts mit dem Islam zu tun. Aber solche Rede geht an der Realität vorbei. Auch diese Religion muss sich reformieren."
Sind die Maghreb-Staaten sichere Herkunftsländer?
Keine Einigkeit herrschte auch in der Frage, ob mehrere Staaten Nordafrikas zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden sollen.
"Es spricht viel dagegen", legte sich Jan Schapira in der TAZ auf die Linie fest, die in der Bundespolitik vor allem von den Grünen verfolgt wird.
Wohingegen Dirk Schümer in der Tageszeitung DIE WELT unterstellte, die Grünen würden Armutsmigration aus Afrika und Vorderasien praktisch als Menschenrecht betrachten. Das aber fördere unkontrollierbaren Zuzug und Kriminalität.
"Wohin das führt [so Schümer] das schildert selbst der sozialdemokratische Justizminister Jäger aus Nordrhein-Westfalen drastisch: junge Intensivtäter, die [ ... ] ganze Stadtteile [ ... ] [drangsalieren] und sich über die Machtlosigkeit der Polizei nach jeder Freilassung mehr kaputtlachen. Wer diesen rechtsfreien Raum durch die Menschenrechtslage in Nordafrika kleinredet, dem sind die Menschenrechte zahlloser deutscher Bürger wurscht",
schimpfte Dirk Schümer in der WELT.
"Flüchtlinge fressen" balanciert zwischen schlauer Provokation und artifiziellem Zynismus
Zwischen schlauer Provokation und artifiziellem Zynismus balanciert die neueste Aktion des Zentrums für politische Schönheit - "Flüchtlinge fressen - Not und Spiele".
Vor dem Berliner Maxim Gorki-Theater rekeln sich vier Tiger, denen sich - vom Zentrum eingeflogene - Flüchtlinge freiwillig opfern sollen. Und zwar dann, wenn der Bundestag das Gesetz nicht streicht, nach dem Fluggesellschaften für die Beförderung von Menschen ohne Pass Geldstrafen bezahlen müssen.
Die SZ-Autorin Mounia Meiborg äußerte sich skeptisch.
"Ein Touch von Weltuntergang liegt über allem. Am Tigerkäfig läuft der Countdown. So entsteht ein Szenario der Dringlichkeit, das kein Argument, kein Zögern, keinen Widerspruch zulässt. Und das suggeriert, man stehe an einem historischen Scheideweg und müsse wählen. Eine rhetorische Taktik, die [ ... ] auch der 'Islamische Staat‘ gern benutzt. Der aggressive Humanismus der Aktionskünstler zeigt hier seine totalitäre Seite. Und ist dabei unfreiwillig komisch."
Nun denn! Unter dem Titel "Seid feierlich!" hielt Björn Hayer in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG ein "Kleines Plädoyer für das verlorene Pathos" - denn:
"Allein kann Ironie nicht bestehen. Sie braucht einen Gegenspieler, der es ernst mit der Welt meint."
Wir folgen der NZZ-Empfehlung und schließen uns mit Blick auf die Tumulte der Gegenwart dem pathetischen Bekenntnis des amerikanischen Dichters Charles Simic an, das im TAGESSPIEGEL Überschrift wurde. Es lautet:
"'Wenn ich denke, werde ich traurig.‘"