Aus den Feuilletons

Wie "Fingernägel auf einer Schiefertafel"

Von Gregor Sander |
Im vergangenen Jahr übergab die Schriftstellerin Juli Zeh einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin zur NSA-Affäre - und wartet noch immer auf eine Reaktion. "Antworten Sie nicht mir, antworten Sie Ihrem Volk: Wie sieht Ihre Strategie aus?", schreibt Zeh in der "Zeit"
Im Sommer 2013 übergab die Schriftstellerin Juli Zeh mit 30 Kollegen einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin. 67 407 Menschen hatten ihn unterschrieben und Angela Merkel aufgefordert, den Abhörskandal durch die NSA nicht hinzunehmen.
"Seitdem sind Monate vergangen, und ich habe von Ihnen keine ernst zu nehmende Antwort vernommen", schreibt Juli Zeh nun in einem neuen Brief, abgedruckt von der Wochenzeitung DIE ZEIT. "Wir erleben einen Epochenwandel, der aufgrund seiner politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Implikationen mit der industriellen Revolution verglichen werden kann. Ihr Schweigen dazu, Frau Merkel, ist das Schweigen der mächtigsten Frau Europas. Es schrillt in den Ohren wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Schiefertafel."
Wütend ist die Schriftstellerin und fordert Merkel auf, endlich zu handeln: "Als deutsche Kanzlerin verfügen Sie über einzigartigen Einfluss in Europa. Sie regieren ein Land, in dem die Sensibilität gegenüber Grundrechtsverletzungen aus historischen Gründen so hoch ist wie nirgendwo sonst. Das sind die allerbesten Voraussetzungen, um bei der politischen Begleitung des digitalen Zeitalters voranzugehen. Die Augen der Welt sind auf Deutschland gerichtet. In anderen Ländern heißt es: Wenn die Deutschen nichts tun, dann kann überhaupt niemand etwas ändern."
Eine persönliche Antwort erwartet Juli Zeh offensichtlich nicht mehr, wenn sie sich in der ZEIT mit den Worten verabschiedet: "Frau Merkel, ich wiederhole meine Frage. Antworten Sie nicht mir, antworten Sie Ihrem Volk: Wie sieht Ihre Strategie aus?"
Wer so langsam müde wird von der ganzen Geschichte, dem empfiehlt Andrian Kreye in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG das Buch "Die globale Überwachung" des amerikanischen Journalisten Glenn Greenwald über den NSA-Skandal.
Sehr spannend schreibe Glenn Greenwald, dem Snowden im letzten Jahr in Hong Kong seine Informationen übergab. "Er beschreibt aber auch, wie etwas so Abstraktes wie Metadaten funktioniert: 'Stellen wir uns einmal Folgendes vor: Eine junge Frau ruft ihren Gynäkologen an, gleich darauf ihre Mutter, dann einen Mann, mit dem sie während der vergangenen Monate häufiger nach 23 Uhr telefoniert hat; als Nächstes eine Familienberatung, die auch Abtreibungen durchführt. Daraus lässt sich eine schlüssige Geschichte herleiten, die sich so deutlich aus dem Abhören eines einzelnen Telefonats nicht ergeben würde'."
Die Afrikakorrespondentin der TAZ, Simone Schlindwein, trauert um die französische Fotografin Camille Lepage: "Sie war so jung. Gerade einmal 26 Jahre. Sie war hübsch, mit großen Augen, nicht zu bändigenden langen Locken und einem Lachen, das selbst in diesem Elend und Kriegsgebiet noch ansteckend war." Lepage arbeitete in der Zentralafrikanischen Republik. Einem Land, von dem viele Europäer nicht einmal wissen, dass es das gibt. "Man hatte ihre Leiche am Dienstag auf einem Lastwagen entdeckt. Zufällig. Ihre weiße Haut stach hervor. Sie lag da zwischen weiteren fünf Leichen. Darauf saßen eine Handvoll Kämpfer der christlichen Anti-Balaka-Milizen, die sich seit Dezember mit dem muslimischen Séléka-Rebellen einen blutigen Krieg liefern."
Auch Thomas Scheen von der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG ist erschüttert: "In ihrer letzten Twitterbotschaft hatte Camille Lepage geschildert, wie sie zusammen mit den Anti-Balaka in der Nacht aufgebrochen war, um die Straßensperren der Friedenstruppen für die Zentralafrikanische Republik, Misca, zu umgehen, und wie die Gruppe acht Stunden lang mit Mopeds durch den Wald geknattert war, um nach Amada-Gaza zu gelangen. Das klingt leichtsinnig, fahrlässig gar. Aber das ist es nur für Außenstehende. Solche zweifelhaften Allianzen einzugehen und solche haarsträubenden Reisen zu unternehmen sind das tägliche Brot von Journalisten in Kriegsgebieten."
Ohne deren Arbeit wüssten wir gar nichts über den Konflikt in der Zentralafrikanischen Republik, oder wie es Thomas Scheen in der FAZ formuliert: Camille Lepage hat diese Suche nach der Wahrheit mit ihrem Leben bezahlt.