Wie man zum Verschwörungstheoretiker wird
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Da große Krisen schwer zu ertragen sind, hilft sich der eine oder andere damit, die eigenen, privaten Krisen zu politisieren. Und findet sich auf diese Weise - so Paul Jandl in der „NZZ“ - als Verschwörungstheoretiker auf der Straße wieder.
Gäbe es einen Preis für die sperrigsten und gleichzeitig raumgreifendsten Feuilletonthemen – die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG hätte ihn diesmal gewonnen: Mit 2700 Wörtern, knapp 20.000 Schriftzeichen, verteidigt der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm in einem Essay die jüngste, vielfach kritisierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank.
Konflikt zwischen Bundes- und EU-Rechtsprechung
Wir erinnern uns: Das Bundesverfassungsgericht sah den Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank als teilweise verfassungswidrig an. Wer sich von der Länge des Grimmschen Textes in der FAZ nicht abschrecken lässt, gewinnt Überblick: Grimm zeigt, dass das Risiko eines Konflikts zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof nicht neu ist, der Eklat also nur eine Frage der Zeit war. Eine Lösung des Problems aber sei nicht in Sicht, da "beide Gerichte von ihrer jeweiligen Prämisse aus folgerichtig argumentieren".
In ein und derselben Sache, so Grimm, gebe es zur Zeit zwei einander widersprechende Urteile. Alles hänge daher von der Politik ab. Als Schaden bleibe jedoch die ermutigende Wirkung, die das Urteil auf Mitgliedsstaaten haben könnte, die sich vom Rechtsstaat immer weiter entfernen.
Es könne als sicher gelten, dass sich Ungarn und Polen in ihrer Auseinandersetzung mit der EU-Kommission auf das deutsche Vorbild berufen werden. "Aber", fragt Dieter Grimm, "soll man sich von Richtern, denen es doch ums Recht gehen muss, wünschen, dass sie eine nach ernsthafter Prüfung rechtlich gebotene Entscheidung unterlassen, weil sie von anderen missbraucht werden kann?"
Private Krisen werden politisiert
Und damit von den Höhen der Rechtsprechung zu den Niederungen des Alltags. "Große Krisen sind schon deshalb schwer zu ertragen", schreibt Paul Jandl in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, "weil uns unsere eigenen Krisen dann noch privater vorkommen. Manche helfen sich, indem sie ihre privaten Krisen politisieren. Sie werden zu Verschwörungstheoretikern und gehen mit anderen Verschwörungstheoretikern auf die Strasse. Da sind sie nicht so allein. Dass man sich aus Vernunft plötzlich auch gemeinschaftlich einigen soll, macht wiederum die Vernünftigen nervös. Sie wollen auf souveräne Art, sozusagen eigenhändig, vernünftig sein. Nicht so, wie es die Virologen oder die Politiker wollen", so Jandl, um dann noch ein wenig privater zu werden:
"Der Mann in meiner Strasse, der seine private Krise seit vielen Monaten herausschreit, steht pünktlich um fünf Uhr früh mit einem Pappschild auf der Kreuzung vor dem Haus. Auf dem roten Schild ist Gott in allen Namen angeführt, die ihm die Weltreligionen gegeben haben, aber was der Mensch vor sich hin brüllt, scheint sehr persönlich zu sein. Es geht um ein Unrecht, von dem er meint, dass es ihm und seiner Familie angetan wurde. Das wichtigste Wort aber ist 'Nazi'. Alle sind Nazis. Seit Monaten schreit uns der Mann entgegen, dass er so schreien müsse, weil man ihn sonst nicht höre. Und dass er geistig völlig gesund sei. Morgens um fünf wird dann manchmal ein Fenster geöffnet, und jemand schreit zurück: 'Halt doch die Klappe!'"
Abriss des Nationaltheaters in Tirana
Währenddessen fragt die Tageszeitung DIE WELT bereits, wer die heimlichen Gewinner der Coronakrise sind: Ganze Wirtschaftszweige hätten insgeheim Hochkonjunktur. "Plötzlich wachsen überall Plexiglaswände empor: an den Schaltern, an den Kassen, in den Friseursalons. Wer produziert sie in so rasender Eile, dass sie allerorten gleichzeitig verfügbar sind?"
Umstürzendes vermeldet dagegen die TAZ: In der albanischen Hauptstadt Tirana haben am frühen Sonntagmorgen Bagger mit dem Abriss des Nationaltheaters begonnen. Das Theater war seit Juli 2019 von Künstlern und Aktivisten besetzt worden, um das Gebäude zu schützen. Laut Plänen des albanischen Premierministers Edi Rama soll ein Shopping-Komplex anstelle des Theaters errichtet werden.
Die Verteidiger des Theaters wollen nicht aufgeben, sie hoffen, so die TAZ, "nun auf Reaktionen aus Europa. Das Gebäude sei vermessen" und könne – entsprechende Unterstützung vorausgesetzt - "auch wieder aufgebaut werden". Das klingt zwar naiv, wir aber halten fest: Es hoffen noch Menschen – auf Europa!