Wirtschaftliche Not als Identitätsverlust
Der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama bringt eine neue Zeitdiagnose auf den Markt und konstatiert den Rückgang der Gesamtzahl demokratischer Staaten in fast allen Regionen der Welt. Dies verknüpft er mit dem Aufstieg der Identitätspolitik.
Die Frage nach der Identität ist eine treibende Macht geworden. Diese Erkenntnis des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama wird man in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen nicht übergehen können. Im aktuellen SPIEGEL erhält er Gelegenheit, seine jüngsten Überlegungen auszubreiten. Sie gipfeln in der Mahnung: Die liberale Gesellschaft kann nur handlungsfähig bleiben, wenn sie sich nicht in viele kleine Gruppen spalten lässt.
Fukuyamas Ausgangspunkt ist – wie nicht anders zu erwarten – der dramatische Wandel in der Weltpolitik in den vergangenen Jahrzehnten. Zunächst verweist er auf die erhöhte Anzahl der Demokratien von rund 35 auf über 110 zwischen den frühen Siebzigerjahren und der ersten Dekade dieses Jahrhunderts.
Im selben Zeitraum vervielfachte sich der weltweite Ertrag an Gütern und Dienstleistungen. In vielen Ländern, besonders in den wohlhabenden Demokratien, erhöhte sich gleichzeitig die wirtschaftliche Ungleichheit", schreibt der Politologe, dessen Buch "Identität" der Verlag Hoffmann und Campe für Februar in Deutsch ankündigt.
Immer mehr Länder werden autoritär regiert
Darin veröffentlicht der 65-Jährige seine Beobachtungen: "Die Gesamtzahl demokratischer Staaten ist in den letzten Jahren in fast allen Regionen der Welt zurückgegangen. Einige Länder, die in den Neunziger Jahren den Eindruck erfolgreicher liberaler Demokratien gemacht hatten – darunter Ungarn, Polen Thailand und die Türkei – gleiten wieder in Richtung Autoritarismus ab."
Fukuyama sieht diese Entwicklungen mit den wirtschaftlichen und technischen Umschwüngen der Globalisierung verknüpft – "aber", und das betont er energisch, "sie sind auch in einem anderen Phänomen verwurzelt: dem Aufstieg der Identitätspolitik." In Kürze nur ein Beispiel aus seiner Gedankenkette: "Wirtschaftliche Not wird nicht als Entbehrung, sondern als Identitätsverlust empfunden." Mehr dazu im neuen SPIEGEL.
Kairos bittersüßer Sound
Und ergänzend dazu: Auch die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG vom Wochenende druckt die Gedanken des, wie sie ihn nennt: "nüchternen und eminenten Zeitdiagnostikers". Man könnte von der Identität einer Stadt oder eines Landes anhand von Tönen und Geräuschen sprechen. "Jede Stadt hat ihren Sound. Aber nur meine spricht zu mir", schreibt beispielsweise Mansura Eseddin in der NZZ.
"Kairo kann nicht geräuschlos sein. Meine bittersüße alte Stadt hat eine beträchtliche Begabung, Lärm zu erfinden." Ihr gefalle die Vorstellung, dass eine Stadt auf diese Art ihre Gefühle mitteilt, ja, "es imponiert mir," schreibt sie weiter, "an Kairo wie an ein menschliches Wesen zu denken, das seine Freude und seinen Kummer auszudrücken weiß – jedenfalls für jene, die fähig sind, seinen Codex zu dechiffrieren". Kairos realen Sound beschreibt die Autorin als ein Gemisch aus Krachen und Gesängen, Schreien und Gelächter.
Weiblicher Kanon zur Buchmesse
Die Beilage der WELT, die LITERARISCHE WELT, eröffnet "einen weiblichen Kanon zur Buchmesse" unter der Überschrift "Frauen, die Sie kennenlernen sollten". Zwölf schreibende Frauen werden in Kurzporträts vorgestellt und eine Umfrage "unter Autorinnen unserer Zeit" fragt: "Welche Frau gehört für Sie in den Kanon?"
Eine Filmfrau wird in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG geehrt: Christiane Hörbiger. An diesem Samstag feiert sie ihren 80. Geburtstag. "Als TV-Schauspielerin gehört sie zu jener Extraklasse, die für Qualität und Würde bürgt", lobt Christine Düssel in der SZ. Und weiter: "Sie hat zuletzt immer wieder auch das eigene Älterwerden in schonungslosen Darstellungen von Frauen in sozialen Problemlagen thematisiert, in 'Auf der Straße' eine Obdachlose, in 'Wie ein Licht in der Nacht' eine Alkoholikerin, in 'Die letzte Reise' eine Seniorin, die selbstbestimmt sterben will. In all den Rollen war sie die Grande Dame des deutschen Fernsehens."