Aus den Feuilletons

"Zur Hölle mit der Hymne!"

Die Nationalspieler Mesut Özil, Jerome Boateng und Shkodran Mustafi vor dem Spiel Deutschland-Ukraine.
Singen die "Promenadenmischung mit süßlicher Schlampenmelodie" nicht mit: Özil, Boateng und Mustafi. © picture alliance / dpa / Marius Becker
Von Arno Orzessek |
Die deutschen Fußballstars Özil, Khedira, Boateng werden von selbsternannten Heimatschützern angefeindet, weil sie beim Abspielen der Nationalhymne nicht mitsingen. Der Schriftsteller Per Leo rät in der FAZ: "Singen Sie, wenn Ihnen danach ist, lassen Sie es, wenn nicht!"
"Lieber Herr Özil, liebe Herr Khedira, lieber Herr Boateng", wendet sich der Schriftsteller Per Leo in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG an drei unserer Nationalspieler und rät ihnen, souverän zu bleiben, wenn vor dem EM-Spiel gegen Polen die deutsche Nationalhymne erklingt.
"Bitte singen Sie, wenn Ihnen danach ist; bitte lassen Sie es, wenn nicht. Sollten Sie aber den Druck der Erpressung spüren, den ein anmaßend selbstgerechtes Heimatgefühl auf ein angemessen kompliziertes Heimatgefühl ausübt, dann empfehle ich Ihnen Schmähkritik."
Damit Özil, Khedira und Boateng die Ansichten Per Leos, der jüngst mit dem Förderpreis zum Hölderlin-Preis beehrt wurde, auch richtig verstehen, setzt er hinzu:
"Unter uns, von deutschem Dichter zu deutschem Kicker: zur Hölle mit der Hymne! Zum Teufel mit dieser Promenadenmischung aus stumpfen Trochäen, ihrerseits gezeugt im Vollrausch auf einer englischen Insel, und süßlicher Schlampenmelodie, die auch für Österreich schon die Beine breit gemacht hat."
Nun denn!

Selbstbestimmte Schlampen?

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG schreibt Susan Vahabzadeh über das "Objekt der Begierde", womit junge Mädchen gemeint sind, die zwischen zwei Frauenbildern zerrieben werden. Sie sollen laut Vahabzadeh "heiß sein, aber selbstbestimmt" – beides jedoch ließe sich kaum vereinbaren.
"Es ist, als würden zwei Welten kollidieren – in der einen sind Selbstbestimmung und Gleichberechtigung gesellschaftlich fest vereinbart. In der anderen reduzieren sich Mädchen auf ihren Körper und sind Schlampen, allesamt. Und weil diese beiden Welten eigentlich derselbe Ort sind, kommt es zum Konflikt. Eine Atmosphäre, in der Frauen nicht geachtet werden, erzeugt keine Generation von Vergewaltigern – aber eine Welt, in der sexuelle Übergriffe und Benachteiligung selbstverständlich bleiben."
Uns erscheint die Argumentation der SZ-Autorin Vahabzadeh etwas konfus, aber lesen Sie bitte selbst – und nehmen Sie ergänzend auch "Die große Sexismus-Theorie" zur Hand, einen Artikel von Felix Zwinzscher in der Tageszeitung DIE WELT. Hier nur Zwinzschers General-These:
"Hacker und Computernerds sind die starken Männer unserer Zeit. Frauen haben zu ihrer Szene meist keinen Zugang – und wenn doch, droht ihnen Belästigung oder Schlimmeres."

Internet als Abbild der Wegwerfgesellschaft

Apropos Schlimmeres: "Woher kam sein tödlicher Hass?", fragte die Wochenzeitung DIE ZEIT neben einem Foto von Omar Mateen, dem Massenmörder von Orlando.
Thomas Assheuer macht ferndiagnostische "Anmerkungen zu dem Phänomen der terroristischen Ich-AG", wofür er wie immer kluge Köpfe und deren Bücher heranzieht – nur nutzt das im Falle Mateens herzlich wenig.
"Auch wenn Politik- und Sozialwissenschaftler hervorragende Forschungen und Fallstudien über den Terrorismus bereithalten, so tun sie sich doch enorm schwer damit, den 'hausgemachten' Terrorismus zu erklären, die plötzliche Konversion von Einzelnen. Woher kommt der Hass der Selbstbekehrer und Selbstrekrutierer? Die derzeit mehrheitsfähige Erklärung lautet, der Islam selbst sei die Ursache des Terrors. Er sei nun einmal eine archaische Opferreligion."
Damit aber gibt sich Assheuer nicht zufrieden. Der ZEIT-Autor sieht - in Anlehnung an die Soziologen Volker Beck und Zygmunt Baumann - im Internet "ein perfektes Abbild der chaotischen Weltgesellschaft" und macht es für Fehlentwicklungen verantwortlich.
"Auf der einen Seite schärft der Cyberspace das Bewusstsein dafür, wie eng die Welt verwoben ist und wie abhängig alles von allem ist. Auf der anderen Seite aber provoziert die digitale one world massive Abwehr und Abgrenzungen. Und die radikalste Abwendung besteht in der Absonderung von Hass. Der Ausstoß von Hass säubert den Weltkampfplatz, er macht ihn übersichtlich. Hass zieht Grenzen; er benennt einen Feind, beseitigt Unschärfen und verschafft dem Einzelnen das Gefühl einer Gegenmacht."
Dunkel dräut es fürwahr allerorten. Was uns trotzdem auszurollen bleibt, wurde in der SZ Überschrift – nämlich ein "Roter Teppich für die Hoffnung."
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