Aus den Randgebieten des Sehens

Von Jochen Stöckmann |
In malerisch wie fototechnisch vollendeten Bildern erspäht Saul Leiter Gesten im Großstadttrubel, die er mit seiner einfachen Kamera auf einen Archetypus reduziert – eine visionäre, sanft beschwörende Höhlenmalerei. Das Hamburger Haus der Photographie zeigt eine Retrospektive seines Werks.
Eisig schimmerndes Blau oder verwaschenes Ocker springt in Form fragmentarischer Splitter fast plastisch aus monochromen Farbfeldern der Gouachen und Aquarelle hervor, die in der Hamburger Deichtorhalle zu sehen sind – im "Haus der Photographie". Denn in der langen Reihe pastellfarbener Kleinformate von Saul Leiter, dem 88-jährigen Künstler aus New York, taucht hin und wieder auch ein Foto auf, etwa vom Times Square: Eine abstrakte Komposition aus kristallblauen Schlieren und cremefarbenen Lichttupfern mit gelbem Quadrat über rotblauer Craquelure.

Aus den 50-ern, als Avantgardisten der Farbfotografie wie William Eggleston noch in den Startlöchern standen, stammen diese Aufnahmen: malerisch wie fototechnisch vollendete Souvenirs aus Randgebieten des Sehens. Dieses eigentlich gar nicht so entlegene Terrain im Herzen der Stadt durchstreifte Saul Leiter, ohne künstlerisches Konzept oder kommerzielles Kalkül, ohne Rücksicht auf die akademische Karriere oder gar den Kunstmarkt. Als Außenseiter allerdings kann man den ehemaligen Modefotografen für Vogue, Esquire oder Harper's Bazaar schwerlich abtun. Aber er suchte seinen ganz eigenen Weg, mitten im erfolgsversessenen Hexenkessel New York:

"Ich male, weil ich malen möchte. Und ich fotografiere, weil ich fotografieren möchte. Nicht jeder macht heute das, was er gerne tun möchte. Viele Leute betonen nur, dass sie es gerne tun würden. Und suchen allerlei Gründe, um anderen vorzuwerfen, dass sie nie getan haben, was sie eigentlich wollten. Ich finde es töricht, in dieser Welt zu leben und nicht zu tun, was man tun möchte."

Und Saul Leiter mochte es, mitten auf der Straße in irritierender Nahsicht einen Hut zu fotografieren, das sorgsam verpackte einzelne T-Shirt im Eingang zum vornehmen New Yorker Kleidungsgeschäft, die Füße des anonymen Fahrgasts im El-Train. Neben Erinnerungen an seine jüdische Familie mit langer Rabbiner-Tradition und Porträts der Freunde und Kollegen Eugene W. Smith und Robert Frank bilden die so entstandenen Schwarzweiß-Aufnahmen den Auftakt der Hamburger Retrospektive. Nicht nur, dass Dinge des Alltags Gewicht und Eigenleben bekommen: Mit Überblendungen und Unschärfen, mit Spiegelungen auf regennassem Asphalt und vor allem mit seinen virtuosen, an die Kamerafahrten des Filmregisseurs Max Ophüls erinnernden Blicken durch Fenster von Bussen und Bahnen, Restaurants und Wartesälen eröffnet dieser Fotograf mit kleinen Schwarzweißfotos einen ganz eigenen Raum, einen von ihm entdeckten Stadtraum.

Vor allem wenn der Blick verschleiert wird, etwa durch ein von Kondenswasser getrübtes Schaufenster, bringt das nur die Imagination in Schwung, lässt die Vorstellungskraft wachsen. Denn diese Fotos illustrieren nicht irgendeine Wahrheit oder rufen vorgefertigtes Wissen ab, sie locken Ahnungen hervor, vielleicht auch kleine Utopien. In der Reihung von mehr als 200 Fotos ergibt das ein paradoxes Panorama von New York, extrem dynamisch und seltsam verträumt zugleich: ein Spiegel jenes kleinen Refugiums mit verwunschenem Garten, das der bescheiden lebende Saul Leiter sich aufgebaut hat gegen Verlockungen und rasenden Stillstand des Kunstbetriebs:

"Wir leben in einer Welt, in der es hilfreich ist, ein Idiot zu sein und das mit extremer Inkompetenz zu paaren: Wenn beides zusammenkommt, kann man auf großen Erfolg hoffen und auf Bewunderung."

Das deutsche Publikum wird ihn eines Besseren belehren. Spätestens, wenn man anhand der zahlreich ausgestellten Farbfotografien entdeckt und erkennt, dass Saul Leiter malerische Techniken, die sogenannte Star-Fotografen heutzutage mit großem technischen Aufwand am Computer generieren, vor 50 Jahren schon mit leichter Hand und scharfem Blick beherrschte. Er setzte dieses Können aber nie um des Effekts willen ein, sondern für Kompositionen, in denen ganz zart das Figürliche der Fotografie in die sanfte Abstraktion monochromer, aufs Essentielle reduzierter Farbflächen übergeht: sei es ein orangeroter Regenschirm im Schneetreiben, das kornblumenblau angelaufene Schaufenster oder die gelbe Karosserie des Yellow-Cab.

Aus dem Fenster dieses New Yorker Taxis ragt eine Hand am Haltegriff, nur der Anzugärmel und ein weißer Manschettenrand sind zu sehen. Auf anderen Fotos sind es ein Fahrradfahrer, halb verdeckt vom Lichtmasten, oder der Fußgänger vor der Ampel, nur angedeutet zusammen mit der Ecke eines Regenschirms und tropfnasser Plastiktüte, deren Gesten Saul Leiter im Großstadttrubel erspäht, die er mit seiner einfachen Kamera auf einen Archetypus reduziert – eine visionäre Höhlenmalerei, eine sanft beschwörende Charakterisierung der Städtebewohner im 21. Jahrhundert.

Informationen der Deichtorhallen Hamburg - Haus der Photographie