Aus der Perspektive von Mullahs und Revolutionären

Rezensiert von Jochen R. Klicker |
Der Atomkonflikt mit dem Iran beschäftigt seit Monaten die Weltpolitik. Doch ein tieferer Einblick in die Gesellschaft der islamischen Republik bleibt der Öffentlichkeit verwehrt. Was die Iraner und Iranerinnen bewegt, hat nun der Journalist Christopher de Bellaigue in seinem Buch "Im Rosengarten der Märtyrer" beschrieben. Aus zahllosen Gesprächen mit Mullahs und Revolutionären, mit Intellektuellen und Künstlern, mit Basar-Händlern und schiitischen Mystikern setzt er ein Mosaik zusammen, das ein Portrait des Iran "von unten" vermittelt.
"Die Ideologie der Islamischen Republik beruht nicht zuletzt auf der Sehnsucht ihrer Bürger nach einem Mann, der vor mehr als 300 Jahren gestorben ist. Es ist der Imam Hossein, der größte Märtyrer des schiitischen Islam, ein Mann, dessen Tugend und Tapferkeit allen Gläubigen moralischen Halt gibt. Jetzt, wo ich in Teheran wohne und die niemals endende Trauer der Iraner um ihren Imam miterlebe, spüre ich, dass ich unter Menschen lebe, die in ihrem Kummer schwelgen, ihn genießen."

So befangen vom Schmerz der Frommen, aber auch so einfühlsam in den nicht enden wollenden Kummer der Schiiten beginnt dieses "Porträt des Islam". Und ganz ähnlich endet es auch; nämlich mit den Leiden Tausender von Zukurzgekommenen, die manipulierbar sind und von der Gesellschaft der Mullahs manipuliert werden:

"Es war Aschura, der Jahrestag des Märtyrertodes des Imams Hossein. An einer breiten Straßenkreuzung hatte sich eine große Menschenmenge gebildet. ... Der ständig wiederholte Name des Imam wurde zu einem einzigen Aufschrei des Schmerzes und der unausgesprochenen Sehnsüchte. Ich sah einen Mann, der ein fest schlafendes Baby an sich drückte. Er drehte sich schreiend und weinend mit ihm im Kreis. Von den Frauen drang ein Geräusch zu uns herüber, wie ich es noch nie gehört hatte, ein Geräusch wie von schreienden Katzen."

Und zwischen solchem Buchanfang und –ende liegen rund 330 spannende Seiten, gefüllt mit Gesprächen, die der sympathische und offene Autor mit vielen, vielen Iranern aller Schichten, Klassen und Stände geführt hat: Ihrerseits oft keine Anhänger oder gar Freunde des Regimes der Mullahs; sehr wohl aber strikt davon überzeugt, dass sich die gesamte – positiv bewertete – Geschichte des Iran nur um drei Ereignisse drehe: Die Einführung des Islam; die Revolution, die den Schah verjagte; und die Einführung einer theokratisch-nationalen Politik, die keinen Ausländer mehr "um Erlaubnis fragen" muss. Nicht die ehemaligen Herren aus Großbritannien, nicht die US-amerikanischen Großkapitalisten, nicht die doppelzüngigen Moralprediger des Westens mit allen ihren Lastern und Sünden.

Was überrascht an de Bellaigues bunten Berichten und Reportagen: Fast immer gelingt es ihm, die Bilder einer von ihm bereisten Stadt und die Gespräche mit seinen Freunden dort vor Ort zu verknüpfen mit der Vermittlung der historischen, religiösen und kulturellen Grundlagen der iranischen Gesellschaft. Wobei den Schwerpunkt des Autors die "Liebenden der Revolution" bilden: Jene, die sich selbst betrügen in Sachen gesellschaftlicher Freiheit und persönlicher Selbstbestimmung und gleichzeitig an ihrer Religiosität als stabilisierender Selbsthilfe festhalten. Da heißt es zum Beispiel im Rückblick auf den irakisch-iranischen Krieg:

"Die meisten Jungen, und das waren Hunderte, Tausende, leugneten einfach, dass irgend etwas falsch war. Sie sahen nur, was sie sehen wollten, und hielten daran fest, sich selbst und ihren Kameraden von der Unvermeidlichkeit des Sieges zu erzählen."

Und wenn die kummervolle Erfahrung so ganz anderes erleben lässt als die Hoffnung versprochen hatte, dann bleibt zum Beispiel auch dem Typen eines enttäuschten kritischen Journalisten immer noch die Religion:

"Die Religion gab ihm Halt. Sie würde ihn selbst nach einer Reform aufrechterhalten – nach einer Reform, die etwas anderes geworden war, vielleicht radikaler. Ich hatte niemals erlebt, dass sein Glaube an den endgültigen Sieg schwankend wurde. Iran war ein junges Land, dessen Bürger nicht mehr das wollten, was das Establishment ihnen zu wollen befahl. Es war nur eine Frage der Zeit."

Selten hat ein Islam-Experte die innere Spannung der muslimischen Gesellschaften derart deutlich machen können wie de Bellaigue: Nämlich dass die Revolutionäre keineswegs die neuzeitliche Moderne abgelehnt hatten, aber trotzdem nicht zu Parteigängern des westlichen Denkens und Lebens geworden sind. Zu den revolutionären "Errungenschaften" gehörte durchaus ein neues Bewusstsein von Freiheit. Aber Freiheit begriffen als die Fähigkeit und Möglichkeit, Kritik zu üben. Und nicht als Triumph des Individuums über die Interessen und Forderungen der theokratisch verfassten Gesellschaft. Die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit würde das Ende der iranischen Mullah- Gesellschaft bedeuten.

Vor allem aus dieser Spannung zwischen Freiheit zur Kritik und unterbundenem Triumph des Individuums speist sich auch der Hass auf alles "Westliche", das mit dem hasserfüllten Abscheu vor dem Schah und der Wertewelt von Seinesgleichen begann. Hier auch hat die "Lust" am Märtyrertum ihren Ursprung; nämlich aus der Sicherheit heraus zu agieren, dass die tödlichen Werke tugendhafter Gewalt einen direkt eingehen lassen in den Rosengarten des Kollektivs der Märtyrer, dem der Imam Hossein vorsteht als erster, größter und liebevollster Märtyrer. Dem es nachzueifern gilt, wenn man ein makelloser und reiner Revolutionär sein und bleiben will, der seine schmerzliche Sehnsucht nach der endlichen Wiederkehr des Imams auslebt.

"Sie waren Liebende. Sie liebten die Wahrheit. Sie liebten Gott und den Propheten. Sie liebten den Imam Chomeini und die Geistlichen in seiner Umgebung. Sie liebten den Imam Hossein und den Imam Ali. Aber mehr als alles andere liebten sie ihre Feinde – die Liberalen und Marxisten, die Amerikaner und die britischen Agenten. Und natürlich die Zionisten. Sie würden sie mit ihrer Liebe vernichten."

Christopher de Bellaigue: Im Rosengarten der Märtyrer. Ein Portrait des Iran
Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser
Verlag C.H. Beck München 2006
340 Seiten
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