Das Manuskript zum Feature "Es war diese Sehnsucht! - Aus der Sicht eines Stalkers" als pdf-Datei und txt-Datei.
"Es war diese Sehnsucht"
Über ein Jahr stellt Flori seiner Ex-Freundin nach. Wartet vor ihrer Haustür, verfolgt sie und taucht immer wieder an ihrem Arbeitsplatz auf. Die Gedanken an seine verflossene Partnerin bestimmen jeden Tag. Alles soll sich zum Guten wenden.
Der 32-jährige Flori ist getrieben von dem Wunsch, in der Nähe seiner Ex-Freundin zu sein und dieses eine klärende Gespräch zu führen. Es soll sich alles zum Guten wenden.
Dabei gerät nicht nur Floris Leben, sondern auch das seiner Ex-Freundin aus den Fugen. Der psychische Druck, die ständige Belastung und die Angst sind enorm. Schließlich ist sie es, die einen Weg findet, sich und ihm zu helfen.
Warum können einige Menschen nicht von einer bestimmten anderen Person lassen? Verschärfen soziale Netzwerke im Internet das Problem? Wann werden Stalker gefährlich und wie lassen sie sich stoppen?
Warum können einige Menschen nicht von einer bestimmten anderen Person lassen? Verschärfen soziale Netzwerke im Internet das Problem? Wann werden Stalker gefährlich und wie lassen sie sich stoppen?
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"Also so eine Liebe wie zu meiner Exfreundin habe ich noch nie zu einer anderen Frau gespürt. Deshalb war es ja auch so schwer, von ihr wegzukommen", sagt Flori. "Ich habe es versucht. Ich habe auch darüber nachgedacht, was ich gerade mache. Wie ich mich fühlen würde, wenn mich jemand stalken würde, von dem ich gerade einen Abstand brauche. Aber dieses Verlangen war so groß. Das waren so richtige Schmerzen. So wie Krämpfe."
Stalking. Das englische Wort stammt aus der Jägersprache und bedeutet ursprünglich so viel wie "anschleichen", "heranpirschen" und "jagen". Heute beschreibt es die wiederholte Belästigung und Verfolgung eines Menschen, die Angst auslösen und das Leben sowie die Sicherheit des Opfers schwerwiegend beeinträchtigen kann.
"Obwohl ich es wusste, dass, wenn ich sie sehe, sie anfängt zu heulen oder sie mit der Polizei droht. Obwohl ich wusste, dass in dem Moment, wenn ich vor ihr auftauche, es nur Probleme gibt oder Streit. Es war einfach nur diese Sehnsucht, in ihrer Nähe zu sein."
Reporter: Ich bin bei "Stop Stalking" in Berlin verabredet. In den Räumen der Beratungsstelle werden nicht nur Opfer, sondern auch Täter und Täterinnen betreut. Hier treffe ich Flori. Er hat über Jahre seine Exfreundin verfolgt. Im Kopf habe ich das diffuse Bild eines unheimlichen Mannes. Ich bin angespannt, während ich die Treppen hochsteige.
"Guten Morgen Herr Wiese, kommen sie rein!"
Olga Siepelmeyer öffnet mir die Tür. Die Therapeutin hat Flori einige Monate begleitet. Er wartet bereits auf mich in einem der Beratungsräume.
Reporter: "Hallo Guten Tag, Tim Wiese vom Deutschlandradio."
"Hallo, ich bin der Flori."
Vor mir steht ein junger Mann, 32 Jahre alt. Ich blicke in braune Augen und in ein freundliches Gesicht. Nichts Bedrohliches geht von ihm aus. Eigentlich heißt er anders. Damit er geschützt von seinen Motiven berichten kann, hat er seinen Namen geändert. Flori kommt aus dem Kosovo. Seine Stalking-Geschichte beginnt mit einem großen Konflikt. Seine Familie war gegen seine deutsche Freundin.
Zwangsheirat und Doppelleben
"Und dann haben sie versucht, das kaputt zu machen, haben sie angerufen, meine Mutter und meine Schwester haben sie beleidigt. Und dann sind meine Eltern nach unten in den Kosovo gegangen, haben irgendeine Frau gefunden und ich musste sie heiraten. Dann kam dieser psychische Stress von meinen Eltern und Verwandten. Wenn man immer auf jemanden einredet. Körperliche Gewalt ist auch bisschen gekommen."
Seiner deutschen Freundin erzählt Flori nichts von der Zwangsheirat. Er führt ein Doppelleben.
"Ich hatte eigentlich Angst, es meiner Freundin zu sagen. Durch diese Verlustängste. Ich war sehr glücklich mit ihr, habe sie auch vom Herzen geliebt."
Als die Freundin schließlich doch von der verheimlichten Ehe erfährt, beendet sie verletzt die Beziehung. Doch Flori kann die Trennung nicht akzeptieren. Immer wieder sucht er das Gespräch und lauert ihr auf.
"Vor der Haustür. Oder ich wusste ihre Arbeitszeiten, weil sie da ja jahrelang gearbeitet hat, als wir auch zusammen waren. Ich wusste auch wo ihre Freundinnen wohnen. Bin hinterhergefahren, um zu gucken, mit wem sie sich trifft, ob sie sich mit irgendwelchen Typen trifft. Dieses Stalken hat uns beide kaputt gemacht."
Expartner-Stalking kommt am häufigsten vor. Fast die Hälfte aller Täter und Täterinnen waren mit ihrem Opfer vorher in einer Beziehung. Die Ursache für ihr Stalking-Verhalten könnte in frühster Kindheit liegen. Gestützt wird dieser Verdacht durch die Ergebnisse einer Studie der Technischen Universität Darmstadt. Der Kriminalpsychologe Dr. Jens Hoffmann war Teil der Forschungsgruppe, die die psychische Stabilität von Stalkern untersucht hat.
Labil und ohne stabile Bindungsperson in der Kindheit
"Und da zeigte sich, dass Stalker wirklich in allen Dimensionen labiler waren als Vergleichspersonen und das ist schon ein sehr markanter Hinweis darauf, dass da etwas gewissermaßen im Busch ist, was sich im ersten Lebensjahr zumindest als ein Effekt, als eine Destabilisierung in der Persönlichkeitsentwicklung gezeigt hat."
Jens Hoffmann geht davon aus, dass den meisten eine stabile Bindungsperson in der Kindheit gefehlt hat.
"Das kann ein Elternteil sein, muss aber kein Elternteil sein. Das kann jemand sein, der mich gewissermaßen begleitet. An dem ich mich sicher fühle, das ist das ganz Entscheidende. Wo ich das Gefühl habe, der hilft mir auch. Wenn ich eine solche Bindungserfahrung habe, die internalisiere ich. Wo ich gewissermaßen auftanken kann in Krisenzeiten, in destabilisierten Zeiten. Und diese frühe Erfahrung scheint ein großer Schutzfaktor für Menschen zu sein und da scheint bei Menschen, die Stalking-Verhalten zeigen, diese mangelnde Bindungssicherheit ein wesentliches Element zu sein."
Die Ohnmacht und Unsicherheit aus Kindheitstagen kompensieren Stalker möglicherweise, indem sie als Erwachsene mit Macht und Druck eine Bindung und Kontrolle darüber aufrechterhalten wollen.
"Während Stress und diese körperliche Gewalt zuhause war und ich dann bei ihr war – bei ihren Eltern, ich kannte ihre ganze Familie, ihre Verwandten, Weihnachten und alles – habe ich mich wohlgefühlt, mich frei gefühlt. Ich konnte bei ihr sein dieser Mensch, der ich wirklich bin. Und wenn ich Zuhause war, kam immer dieser Stress und Streit mit meinen Eltern. Mit meinem Vater. Und deswegen war es eben schwer das Loslassen."
"Dieses Gefühl, was viele Menschen früher in ihrem Leben schon einmal hatten, keiner ist für mich da oder ich kann mich gar nicht geliebt fühlen, gar nicht gewertschätzt fühlen, das ist so schwer auszuhalten", berichtet Wolf Ortiz-Müller. "Und das führt dann leicht dazu, dass man sagt, ich kann den Menschen gar nicht aufgeben, ich muss an dem dranbleiben, ich darf nicht zulassen, dass der sich in jemand anderen verliebt."
Vom beziehungssuchenden Stalker zum Rache-Stalker
Wolf Ortiz-Müller. Der Diplompsychologe leitet die "Stop Stalking"- Beratungsstelle in Berlin. Er und sein Team betreuen in jedem Jahr etwa 120 Stalkerinnen und Stalker. Selten verfolgen diese Prominente. Häufiger jagen sie dem unerfüllten Wunsch nach einer Beziehung hinterher oder werden von Rachegedanken getrieben. Dann sitzt den Therapeuten ein Mensch gegenüber, der überzeugt ist, dass ihm ein großes Unrecht widerfahren ist.
"Durch einen Rechtsanwalt, durch einen Arzt, durch eine schlechte Note in einer Magisterarbeit seitens des Uniprofs und dann denkt, das kränkt ihn so sehr, dass er auf sich aufmerksam machen will: ‚Ich bin noch da und du hast mir so viel Leid zugefügt und jetzt sollst du das spüren!’ Und dann gibt es so etwas wie den inkompetenten Stalker. Das sind oft Menschen, denen ist es noch nie eine zufriedenstellende Beziehung gelungen, in der die Nähe-Distanz-Regulation zumindest über einen gewissen Zeitraum funktioniert hat. Die wissen manchmal soziale Signale des Flirtens oder der Zurückweisung gar nicht zu deuten. Was wir alle im Grunde genommen uns erst erwerben müssen im Laufe unserer Biographie, wann wir merken: ‚Ach ne, ich glaube, die will nichts von mir’"
"Wir sehen bei vielen Fällen, dass ein Stalker nicht in einer Kategorie gewissermaßen verbleibt, ein beziehungssuchender Stalker dann zum Rache-Stalker werden kann auch", sagt Jens Hofmann.
Stalkingforscher Jens Hoffmann hat festgestellt, dass die Motive von Täterinnen und Tätern einer Dynamik unterliegen und sich auch ändern können.
Stalking wiederholt sich in verschiedenen Kontexten
"Also wenn wir Biographien von Stalkern auswerten, dann machen die das in der Regel nicht einmal, sondern wiederholt und in verschiedenen Kontexten, Zusammenhängen."
Virchow-Klinikum der Charité in Berlin. In Kooperation mit der Universität hat "Stop Stalking" Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Justiz, Polizei und Hilfsorganisationen zu einem Erfahrungsaustausch eingeladen.
Wolf Ortiz-Müller: "Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir eine Ehre, Sie zur Stalkingkonferenz 2017 begrüßen zu können."
Neue Forschungsergebnisse sollen präsentiert und Erkenntnisse aus dem Kampf gegen Stalking besprochen werden. "Wir haben internationale Gäste, die nicht nur aus Österreich und der Schweiz, sondern auch Dänemark, England und Australien kommen. Diese möchte ich besonders herzlich begrüßen", sagt Wolf Ortiz-Müller.
Reporter: Am Rande der Konferenz habe ich Gelegenheit, mit Dr. Troy McEwan zu sprechen. Die leitende Dozentin am Zentrum für forensische Verhaltenswissenschaft in Melbourne gilt als eine der renommiertesten Stalkingexpertinnen weltweit.
"Ehrlich gesagt, ist das ein sehr interessantes Feld. Letztlich ist Stalking die Steigerung eines normalen Verhaltens. Das Extrem von etwas, das viele Menschen machen. Jeder schaut doch mal bei Facebook nach Expartnern. Jeder ist traurig, wenn jemand ihn schlecht behandelt. Nur Stalker sind viel extremer, dass sie sogar ihren Opfern schaden und sie verletzen. Warum handelt jemand so extrem?"
Gedanken von Stalkern drehen sich im Kreis
Bei ihrer Arbeit mit Täterinnen und Tätern hat sie Gemeinsamkeiten unter diesen ausgemacht: "Es lassen sich Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen beobachten, die zum Stalking neigen. Oft nehmen sie Dinge sehr schnell viel zu ernst. Damit verbunden sind sehr große Emotionen. Wenn sich etwas für sie Wichtiges ereignet, können sie nicht aufhören, darüber nachzudenken. Jeden anderen Menschen würde das Ereignis vielleicht auch aufwühlen, aber mit der Zeit würden sich die Gefühle auch wieder ändern oder man würde vielleicht anders darüber denken. Bei Stalkern passiert das nicht."
Troy McEwan erklärt mir, dass sich die Gedanken von Stalkern oft im Kreis drehen. Es sei wie ein Zwang, dem nachzugehen, was die Gefühle überkochen lässt.
"Sie fixieren sich auf das Ereignis oder die Person, die sie beschäftigt. Jemand, der nicht stalkt, wird andere Dinge finden, um sich abzulenken oder seine Emotionen rauszulassen. Zum Beispiel mit Freunden etwas trinken gehen oder Basketball spielen. Irgendetwas, um den Kopf frei zu bekommen. Aber Stalker meinen wirklich, sie bekommen ihre Gefühle nur in den Griff, wenn sie das Opfer dazu bringen, sich anders zu verhalten. Deshalb kommen Stalker wieder und wieder auf ihr Opfer zurück."
"Ich habe das eigentlich nur wegen dieser Überzeugung gemacht, dass sie mir eine Chance gibt und dass man vielleicht noch einmal darüber reden kann", erzählt Flori. "Eine Sache habe ich schon gewusst, dass eine Beziehung vielleicht nicht sofort sein kann. Aber ich wollte eine freundschaftliche Basis haben. Dass man guckt, ob das überhaupt wieder etwas werden kann oder nicht. Und dann kamen wieder diese Gedanken, diese Sehnsucht. Wo sie ist, was sie macht und dieses Verlangen, sie zu sehen einfach. Und das ist der Grund gewesen, warum ich ihr aufgelauert habe."
Die Täter leiden an Realitätsverzerrung
"Stalker sind davon überzeugt, dass sie im Recht sind", erklärt Jens Hoffmann. "Sie glauben tatsächlich, dass sie einen Anspruch darauf haben, Kontakt aufzunehmen oder dass der andere sie schlecht behandelt hat. Sie haben wirklich eine Realitätsverzerrung. Deshalb macht es auch keinen Sinn, mit stalkenden Personen darüber zu sprechen, dass das falsch ist, was sie machen, direkt als Betroffener. Sag’ einmal Nein und sei sehr konsequent mit der Kontaktaufnahme, weil keine Einsicht erzeugt werden kann."
Oft ist das für die Opfer schwer durchzuhalten, gerade wenn vorher eine intime Beziehung bestand. Aber jede Reaktion treibt die Stalker weiter an. Vielen von ihnen ist eine schnelle Kränkbarkeit gemein. Bei Zurückweisung reagieren sie entweder sehr wütend oder verzweifelt depressiv.
Flori berichtet: "Ich hatte Herzrasen, schlaflose Nächte, dann hat mein Arbeitgeber gesagt: ‚Was ist mit dir los, du kannst dich kaum konzentrieren?’ Es ging alles bergab. Beruflich, finanziell, durch die Konzentrationsschwäche habe ich mehrere Verkehrsunfälle gehabt."
"Die meisten, bis auf die kleine Gruppe der psychopathischen Stalker, haben auch ein großes Leid, eine große Belastung auch", sagt Jens Hoffmann. "Das ist häufig auch ein Ansatz, der gewählt wird, über die Belastung zu gehen. Ein Druck von außen. Also es ist durchaus hilfreich beispielsweise durch Auflagen bei Verurteilungen in Therapie zu gehen. Eine Therapiemotivation ist nämlich am Anfang nicht unbedingt gegeben. Deshalb ist es auch sehr zu begrüßen, dass es jetzt mehr Anlaufstellen gibt wie ‚Stop Stalking’. Denn auch hier wie in anderen Bereichen sehen wir, Tätertherapie ist Opferschutz. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Baustein."
Therapeuten wie ein alternatives Elternpaar
"Hast du das Protokoll noch mal gelesen vom letzten Mal", fragt Wolf Ortiz-Müller. "Ja, ich habe es gelesen, ich habe da auch ein paar Bemerkungen reingeschrieben für heute", antwortet Olga Siepelmeyer.
Olga Siepelmeyer und Wolf Ortiz-Müller bereiten sich auf die Sitzung mit einem Stalker vor.
"Ich glaube, wir müssen auffangen, was da letztes Mal am Ende vorkam, und über dieses einsame, verlassene Kind sprechen."
"Ok, dann gehen wir rüber."
Seit 2008 betreut "Stop Stalking" Täterinnen und Täter.
Wolf Oritz-Müller: "Ach Guten Tag, schön, dass wir uns wiedersehen. Dann nehme ich hier Platz. Ist Ihnen da Recht?"
Olga Siepelmeyer: "Möchten Sie ein Schlückchen Wasser?"
Die Gespräche führen immer zwei Therapeuten. Frau und Mann.
Ortiz-Müller: "Es lag dem auch ein gewisses Misstrauen zugrunde: ‚Na, was erzählen die uns denn dann oder wie sehr gehen wir denen auf den Leim?’ Im Verlauf hat sich das eher so entwickelt, dass wir merkten, es tut den Tätern und Täterinnen gut. Wenn man hochgreifen wollte, wir sind fast so wie ein mögliches gutes anderes Elternpaar für diese teilweise doch auch sehr kindlichen Anteile, die diese Stalker auch haben."
Dabei sei es gar nicht immer so einfach, einen Zugang zu bekommen, sagt der Diplom-Psychologe.
"Die präsentieren sich manchmal schon sehr kratzbürstig, unangenehm, wenn es dann sprachlich abwertend wird, vielleicht sehr sexistisch. Dann weichen wir natürlich auch auf einer Seite emotional zurück und denken: ‚Wow, eine ganz schöne Nummer, was ist denn da nur los?’ Und dann ist es die therapeutische Kunst zu sagen: ‚Was steckt darunter, was ist das für ein kleiner Junge, der sich da so aufmanteln muss, der so rummotzt, der so rumstänkern muss?’ Und wenn jemand merkt, dass diese Verletzung durchaus nachvollziehbar ist, dann ist schon mal ein erster Schritt getan."
Integrierte Täter-Opfer-Beratung
"Ich habe gemerkt, ich habe jemanden, ich habe eine Person, mit der ich über alles reden kann", berichtet Flori. "Man zeigt ein bisschen Verständnis. Es ist dann nicht nur diese Ablehnung, sondern auch ein bisschen Verständnis. Und das hat ziemlich gutgetan. Ich habe mich nach jedem Gespräch etwas freier gefühlt."
Als Flori das erste Mal die Beratungsstelle betrat, war er stark selbstmordgefährdet. Doch nicht nur sein Leben, auch dass seiner Exfreundin geriet völlig aus den Fugen. Sie fühlte sich bedroht durch die Verfolgung und die ständigen SMS, die immer aggressiver im Ton wurden.
"Und es wurde immer schlimmer. Dann hat sie mir mit der Polizei gedroht und hat mir halt die Adresse von Stop Stalking gezeigt. Ich habe mich hier gemeldet bei der Frau Siepelmeyer und seitdem bin ich hier."
"Also die Betroffene hat sich auch an uns gewandt und es war klar aus der Beratung, für sie ist die Beziehung eindeutig abgeschlossen", sagt Olga Siepelmeyer. "Sie war so verletzt und das habe ich mit Erlaubnis von der Betroffenen ihm auch erzählt und ganz klar verdeutlicht. Und das war auch ein wichtiger Punkt, von einer anderen Person, der er traut, das noch einmal zu hören: ‚Es wird nichts werden! Das ist nicht die richtige Person. Sie müssen irgendwann aufhören.’
Verständnis und Pendeldiplomatie
Integrierte Täter-Opfer-Beratung nennt sich das Konzept von "Stop Stalking". Wenn möglich, werden beide Seiten betreut. Räumlich und zeitlich voneinander getrennt.
"Es ist so etwas wie Pendeldiplomatie", eklärt Wolf Oritz-Müller. "Man redet mit dem einen und dann an einem anderen Tag ist man mit dem anderen verabredet. Und man kann dann entscheiden, welche Sichtweisen oder welche Informationen man weitergibt, die dem jeweils anderen helfen, sich entweder zu schützen als Opfer oder dem Täter helfen, das eigene Verhalten, besser zu reflektieren oder besser unter Kontrolle zu bringen."
Außerdem lässt sich durch die Rückmeldung der Opfer kontrollieren, ob die Stalker wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen und eine Kontaktaufnahme versuchen. Die Therapie kann sehr langwierig sein. Psychoedukative Maßnahmen sind dabei ein wichtiges Element.
Der Schritt zurück ins Leben
"Beobachten Sie mal ihr Stalking-Verhalten, ihren Stalking-Druck", empfhiehlt Wolf Ortiz-Müller. "Führen Sie mal so etwas wie einen Wochenplan, in dem sie angeben, wann ist ihr Stalking-Druck wie groß, wie stark. Aha, am ganzen Dienstag konnten Sie es verhindern. Was war denn am Dienstag anderes, dass sie da kaum diese Stalking-Impulse hatten? Was haben Sie da gemacht?’ Also wenn man erst einmal Ausnahmen findet, hat man schon einen Fuß in der Tür und dann kann man sagen: ‚Ah ja, schauen Sie, als Sie verabredet waren und als Sie am Wochenende etwas Schönes unternahmen, haben Sie es bis Sonntag hingekriegt, nichts zu machen’. Das ist ein wichtiger Ansatz."
"Ich habe angefangen, zu leben wieder", erzählt Flori. "Habe mich mit meinen Freunden getroffen, bin in den Urlaub gefahren, habe mein Leben genossen und habe mich auch mit manchen Frauen getroffen. Dann habe ich gemerkt, dass es mir guttut, dass ich glücklich bin, dass ich nicht mehr zurück will in dieses Stalken, mich selber nicht mehr kaputt machen will, diese Person nicht kaputt machen will. Ich will auch keinen Stress mit der Polizei haben. Warum? Es ist es nicht wert. Man macht sich immer mehr kaputt. Sein Leben und alles."
Morddrohungen gegen die ganze Familie
Wie es ist, ständig verfolgt zu werden, wütende Nachrichten zu bekommen oder mit schlechtem Gefühl in die U-Bahn zu steigen, weil man nicht weiß, ob man gerade beobachtet wird – davon will mir Alex Kurt erzählen. Er war selbst Opfer von Stalking.
Allerdings möchte er nicht, dass sein richtiger Name und seine Stimme im Radio zu hören sind. Zu tief sitzt die Furcht, sein Stalker könnte ihn wieder ins Visier nehmen. Wir unternehmen gemeinsam einen Spaziergang im Park.
"Angefangen hat es mit Telefonterror. Anrufe am Tag und durch die ganze Nacht. Das kam so aus dem Nichts. Man trägt ja Smartphones mittlerweile tagsüber immer am Körper. Wenn man unterwegs ist, es vibriert und man denkt, das ist jetzt wieder diese unbekannte Person, die mich hasst und ich weiß nicht warum. Das ist so, als würde jemand kommen und einen am Arm packen und ein bisschen schütteln. Das war der Anfang, später kamen auch nicht bestellte Lieferungen, Textnachrichten auf verschiedenen Medien. Drohungen, Morddrohungen gegen die ganze Familie, gegen die Kinder. Die waren sehr konkret und natürlich wenn man gegen sich oder Verwandte Morddrohungen erhält, ist das ein schlimmes Gefühl."
Der Terror für Alex Kurt und seine Familie zieht sich über Monate. Immer wieder versucht der Unbekannte, sich in Erinnerung zu bringen.
Die Opfer haben ein Gefühl von Kontrollverlust
"Man fühlt sich in der Wohnung nicht mehr sicher. Wenn zum Beispiel Lieferungen kommen zu unmenschlichen Uhrzeiten und irgendwie wutentbrannt Lieferdienste klingeln, kann man das nicht unterscheiden, vielleicht ist es jetzt die Person, von der ich gar nicht weiß, wer sie ist. Das heißt, schon die eigene Wohnung wird zum gefährdeten Raum. Wenn man ein halbes Jahr so unter Stress ist, dann baut man wirklich ab. Man denkt darüber nach, muss ich mir jetzt Verteidigungswaffen kaufen? Wen muss ich alles informieren? Und ich habe aus Selbstschutz heraus relativ früh angefangen, mir Notizen zu machen und aufzuschreiben, wann die Anrufe kommen und einfach Vermutungen anzustellen. Wer mag einen alles nicht?"
"Das ist eine ganz tragische Dynamik", sagt Jen Hoffmann, "dass die Betroffenen von Stalking häufig aus dem unglaublichen Gefühl von Kontrollverlust und das ist wahrscheinlich eines der belastenden Momente, dass ich das Gefühl habe: ‚Ich weiß nicht, was als nächstes passiert’, dass dann der Versuch unternommen wird, ich gucke immer, dass ich früh mitbekomme, wenn sich das wieder aufschaukelt. Und dass das auch gleichzeitig zu einer erhöhten Belastung führt, weil ich permanent mit der Bedrohung beschäftigt bin. Eine Bedrohung führt bei uns eine Stresssituation aus biologisch. Das ist die Kampf- oder Fluchtreaktion. Und Dauerstress kann in vielerlei Hinsicht körperlich und psychisch krankmachen."
"Bei mir hat sich auch mein Agressionslevel sehr nach oben gedreht, obwohl ich ein sehr ruhiger Mensch bin. Aber ich bin deutlich impulsiver dadurch geworden. Während der Stalking-Phase hat es zum Beispiel mal an unserer Tür geklopft. Da dachte ich, das ist er jetzt und ich bin barfuß die Treppe runtergerannt mit der Absicht, den zu verprügeln. Das war aber nur ein älterer Herr, der sich in der Tür geirrt hatte. Und da habe ich gemerkt, da hat sich etwas bei mir verändert. Bis heute ist es mir auch noch unangenehm, wenn ich einen Anruf von einer unbekannten Nummer hatte. Ich muss dann zurückzurufen, kontrollieren, wer dahintersteckt. Ein bisschen zwanghaft fast schon. Das heißt, dieses Angstgefühl das geht nicht einfach weg."
Mit Hilfe der Polizei haben Sie ja dann rausgefunden, wer sie verfolgt und bedroht hat. Der Täter ist auch verurteilt worden. Was war sein Motiv?
"Enttäuschte Freundschaft. Wobei das ein sehr einseitiges Freundschaftsgefühl war. Mir war das gar nicht bewusst. Ich habe auch immer wieder versucht, zu verstehen, was ich falsch gemacht habe. Habe ich vielleicht einen falschen Satz gesagt oder so etwas. Aber es ist wichtig, dass man da rauskommt. Es ist Stalking. Du bist nicht schuld daran, wenn jemand sagt, dass er dich umbringt."
Stalking als selbst stabilisierendes Erlebensmuster
Psychologen sehen in Stalking ein sich selbst stabilisierendes Erlebensmuster. Täterinnen und Täter finden Befriedigung in ihren Handlungen, weil sie Ventil für ihre Wut sind. Stalking nährt somit das Stalking und kann immer gefährlicher werden. Dazu forscht Jens Hoffmann am Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt.
Jen Hoffmann erklärt: "Generell können Risikofaktoren sein Alles-Oder-Nichts-Aussagen: ‚Ich habe nichts mehr zu verlieren’, Mitbringen und Zeigen von Waffen sind sicher auch Hochrisikofaktoren und es gibt eine Gruppe von Stalkern, die gewalttätig werden, die gerade nicht offen aggressiv sind. Die Tag und Nacht vor dem Haus sitzen, die dem anderen immer mehr die Schuld geben, dass er das eigene Leben zerstört hat. Die - und das ist das verblüffende – Menschen, die eigentlich eher überkontrolliert sind in Aggression, in tödlicher Gewalt ein Opfer auch attackieren können."
Am gefährlichsten ist das Expartner-Stalking. Je besser man sich kennt, desto häufiger tut man sich etwas an, so Hoffmann.
"Der große Fehler, der immer noch gemacht wird, ist, dass man sagt, wir können nichts machen, bevor nichts passiert ist. Wir können natürlich, wenn wir fachlich und wissenschaftlich begründet ein Risiko sehen, dass es zu einer schweren Gewalttat kommt, dass sich das zuspitzt, kann man mit einem Fallmanagement das Risiko sicherlich verringern. Da sind wir in Deutschland leider hinterher. Da passiert in Österreich und der Schweiz schon deutlich mehr an vielen Stellen, dass die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder auch Täterarbeit zusammen überlegen, was können wir aufeinander abgestimmt machen."
Schnelles Erkennen von Stalkingverhalten
"Technisch ist es so, dass wir ein Büro bei der Kantonspolizei haben und Sachbearbeiter können zu uns über den Flur kommen, wenn sie einen Fall reinbekommen haben und sie denken, dass das jemand ist, bei dem wirklich ein Risiko vorliegt oder das könnte jemand sein, der eine psychische Störung hat", sagt Dr. Angela Guldimann.
Sie arbeitet an der psychiatrischen Uniklinik Zürich und leitet die Fachstelle Forensic Assesment and Riskmanagement, welche die Schweizer Behörden bei der Risikoeinschätzung und beim Umgang mit Stalkern unterstützt.
"Dann setzen wir uns zusammen und besprechen den Fall und schauen auch, welche Infos eventuell noch fehlen. Und wenn man auf die Person zugeht, wie man das machen könnte, um auch die Gefährder ins Boot zu holen."
Durch die enge Zusammenarbeit von Polizei und Experten ist ein schnelleres Erkennen von Stalkingverhalten und somit ein frühes Eingreifen möglich. Das ist für Angela Guldimann ganz entscheidend.
"Je länger Stalker stalken, desto mehr investieren sie. Also zum Beispiel gibt es ja dann solche, die aufgrund des Stalkings ihren Arbeitsplatz verlieren, weil sie sonst gar nichts mehr anderes tun können, als ihrer Exfrau nachzulauern. Was natürlich zur Folge hat, keine Tagstruktur mehr, Stalken noch häufiger, verlieren dann vielleicht auch so bisschen das Umfeld, wenn sie denn eins hatten, die Kollegen und Freunde. Und dann wird es auch heikel, wenn jemand so gar nicht mehr im Leben steht."
Das Internet bietet ganz neue Möglichkeiten zur Belästigung
In der sehr begrenzten, auf eine Person ausgerichteten Welt von stalkenden Menschen stellt das Internet eine besondere Herausforderung dar. Hier können Täter ihrem Opfer jederzeit nah sein und Macht ausüben. Troy McEwan sieht darin eine neue Qualität.
"Es gibt Stalkern noch einmal ganz andere Möglichkeiten zur Belästigung. Alles was mit den sozialen Medien verbunden ist. Stalker können schauen, was macht das Opfer, wo hält es sich auf, manche hacken sich in die Accounts der Opfer. Das Internet bringt teilweise erst Stalking-Verhalten hervor und es verschärft die Problematik. Auch die Versuchung, mal eben zu schauen, was die oder der Ex bei Facebook macht, ist sehr groß. Wir können nur helfen, mit diesem Druck umzugehen, etwas Anderes zu machen und nicht das Opfer zu bedrängen."
Nicht nur die neuen Kommunikationsmöglichkeiten begünstigen Stalking. Kriminalpsychologe Jens Hoffmann sieht auch fehlende soziale Kontrolle immer mobilerer Menschen als Grund: "Also wenn ich früher auf dem Dorf eine Frau gestalked habe, dann habe ich vielleicht wirklich enormen Druck oder auch mal ein paar auf die Nase bekommen. Also das Ganze war noch schwieriger im Geheimen zu machen, ohne einen sozialen Druck von außen. So dass angenommen wird, dass doch in den letzten Jahrzehnten Stalking-Verhalten zugenommen hat. Vielleicht auch durch eine größere Bindunglosigkeit, dass ich mir meine Netzwerke um die ganze Welt in der digitalen Welt spinnen kann und gar nicht mehr die echten Bindungen und Beziehungen von Gesicht zu Gesicht haben muss."
Ein Leben in Freiheit
Reporter: "Was wünschen Sie sich für die Zukunft?"
Flori: "Für mich? Dass ich glücklich werde, egal mit wem. Also jetzt denke ich, dass es auch ein Leben ohne meine Exfreundin geben kann. Dass ich für mich gerade zähle und nicht nur sie. Ich habe sehr viele Ziele gehabt und ich versuche jetzt, meine Ziele Schritt für Schritt zu verwirklichen. Auch ohne Sie und das tut auch gut."
Reporter: "Haben Sie keine Angst, dass ihnen das noch mal passieren könnte, dass Sie noch einmal zum Stalker werden?"
Flori: "Nein!"
Reporter: "Was gibt Ihnen da die Gewissheit?"
Flori: "Dass ich so leben werde, wie ich es will. Und wenn es nicht funktioniert mit einer Person, dann weiß ich, dass ich daran Schuld bin und dass kein anderer Einfluss hatte mehr."