Aus drei Sätzen eine Geschichte

Von Tobias Wenzel · 13.05.2008
Ohne Bleistift und Notizbuch würde die amerikanische Schriftstellerin Lydia Davis heute wahnsinnig. Zu groß ist die Angst, einen kostbaren Gedanken, einen aufgeschnappten Satz zu vergessen. In ihrem Erzählband "Fast keine Erinnerung", der nun auf Deutsch erscheint, nimmt die 61-jährige Autorin ihre Notizbuch-Manie selbst auf die Schippe.
"”It's so lovely. And it's always the way it I think it should be.""

Lydia Davis ist überwältigt von der Stille. So wie hier in der Schweizer Barockstadt Solothurn sollte es immer sein, sagt sie. Die US-amerikanische Schriftstellerin sitzt draußen im Schatten eines Gasthauses. Trotzdem behält sie die Sonnenbrille auf. Ganz wohl ist ihr nicht dabei, interviewt zu werden. Ihre Arme hält die 1947 geborene Autorin verschränkt. Manchmal schiebt sie mit der linken Hand den massiven silbernen Armreif der rechten hoch. Ihr Blick fällt auf einen kunstvoll errichteten Haufen aus Steinen, die meisten geschliffene Marmorplatten. Ob daraus noch Grabsteine hergestellt werden?

"Liebe
Eine Frau verliebte sich in einen Mann, der schon seit einigen Jahren tot war. Es reichte ihr nicht, seine Sakkos auszubürsten, sein Tintenfass abzustauben, seinen elfenbeinernen Kamm in die Hand zu nehmen: Sie musste über seinem Grab ein Haus bauen und Nacht für Nacht bei ihm bei im dunklen Keller sitzen."

Mit nur drei Sätzen kann Lydia Davis eine ganze Geschichte erzählen. Früh fühlte sie sich angezogen von der Schlichtheit und Knappheit der Sprache. Sie liebt die Wiederholung, spielt nicht selten mit Varianten derselben Sätze, um sie dann ad absurdum zu führen. Beckett und das absurde Theater überhaupt hat sie beeinflusst. Liebe kann bei ihr im Keller enden. So wie in der Kurzgeschichte "Liebe". Aber kann Liebe wirklich von Dauer sein? Über den Tod hinausreichen?

"Ja, das glaube ich. Ich habe zwar noch nicht die Erfahrung gemacht, einen Mann zu verlieren, den ich liebe. Aber Familienmitglieder von mir sind gestorben und auch mein Hund. Wer keinen Hund hat, findet das vielleicht lustig. Aber Hundebesitzer wissen, wie traurig das ist. Sehr lange habe ich Gegenstände aufbewahrt, die mein Hund zerfetzt, in die er gebissen hatte, wenn er böse war. Noch immer habe ich einige dieser Gegenstände. Sie Zeugen der lebendigen Gegenwart des Hundes. In der Geschichte habe ich die Vernunft hinter mir gelassen, um ins Absurde vorzudringen. Trotzdem steckt darin eine psychologische Wahrheit."

Kurz muss Lydia Davis schmunzeln, um sofort wieder konzentriert bei der Sache zu sein. Eine seltsame Mischung aus Ernst und Freundlichkeit legt die hagere Frau mit den nach hinten gebundenen Haaren an den Tag. Auf der Lesereise durch die Schweiz und Österreich schnappe sie immer wieder deutsche Wörter auf, die sie kenne, erzählt sie.

"Im Alter von sieben lebte ich fast ein ganzes Jahr in Graz. Ohne irgendeine Vorbereitung wurde ich in die Ursulinen-Kloster-Schule gesteckt. Nicht einmal der Lehrer sprach Englisch. Nach einem Monat konnte ich Deutsch lesen und schreiben. Meine Mutter erzählte mir, dass ich, als ich aus Österreich zurückkehrte, mit mir selbst auf Deutsch sprach, weil ich es wohl vermisste. Sie erinnert sich vor allem daran, wie ich das Wort 'Schmetterling' sagte."

Lydia Davis selbst geht das Wort "Bleistift" nicht mehr aus dem Kopf. Ohne Bleistift und Notizbuch würde sie heute wahnsinnig. Zu groß ist die Angst, einen Gedanken, einen aufgeschnappten Satz zu vergessen und damit etwas Kostbares zu verlieren. Alle ihre Kurzgeschichten sind letztlich aus diesen tagtäglichen Notizen hervorgegangen. In einer Geschichte des Erzählbandes "Fast keine Erinnerung" nimmt Davis ihre Notizbuch-Manie auf die Schippe. Schon mit zwölf Jahren wollte Lydia Davis Schriftstellerin werden. Ihre Mutter schrieb Kurzgeschichten und auch ihr Vater, bis er schließlich Englisch-Professor wurde.

"Bei uns zu Hause wurde meine Sprache geradezu genährt oder kultiviert. Mein Bruder, meine Schwester und ich konnten nichts sagen, ohne dass meine Eltern beobachten, wie wir es sagten. Das war gleichzeitig frustrierend und ein gutes Training. Wahrscheinlich hat meine Frustration, nicht wirklich frei sprechen zu können, dazu geführt, dass ich schreiben wollte. Wenn ich schrieb, hatte ich allein die Kontrolle darüber, was ich sagte. Niemand konnte es kommentieren, bis ich am Ende des Textes angelangt war."

Auch fremde Texte kennt Lydia Davis genau. Seit vierzig Jahren übersetzt sie aus dem Französischen ins Amerikanische Englisch: Foucault ebenso wie Michel Butor und Marcel Proust. In den 70er Jahren übersetzte sie noch gemeinsam mit ihrem damaligen Mann, dem Schriftsteller Paul Auster. Jetzt ist Lydia Davis mit einem Maler verheiratet. Zwanzig Jahre schon lebt sie zwei Stunden Autofahrt von New York entfernt. Ein dauerhaftes Leben in der Stadt kann sie sich nicht vorstellen. Hauptsache ruhig: egal, ob im Schweizer Solothurn oder auf dem Land in den USA.

""Letztes Jahr sind mein Mann und ich sogar noch weiter ins Landesinnere gezogen, weg von der Zivilisation. Meine Nachbarn auf der anderen Straßenseite sind ein Mann und drei Kühe. Wahrscheinlich habe ich dort mehr Kontakt zu Kühen als zu Menschen. Für mich ist es sehr wichtig, nicht im Zentrum einer Schriftsteller-Gemeinschaft zu leben. Ich bin mit vielen Schriftstellern per E-Mail in Kontakt. Aber ich habe die Wahl und kann die E-Mails nicht ansehen, um mich isoliert zu fühlen. Das ist wichtig für meine Sicht auf die Dinge."

Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer, Droschl 2008,
182 Seiten, 19 Euro.
Mehr zum Thema