Aus Marthalers Fantasie-Fundus

Von Michael Laages |
Dies ist das heiterste Stück von Christoph Marthaler seit vielen Jahren. In seiner Variante des Musicals "My Fair Lady" erhält das Blumenmädchen Eliza Doolittle Englischunterricht der verschärften Art.
Um das ganze Maß an himmlischem Vergnügen zu ermessen, dass dieses kleine Stück Glück im Theater durchzieht, kann ein bisschen Ahnenforschung nicht schaden. Hier, auf der Kleinen Bühne, und überhaupt auf den kleinen Bühnen am Theater Basel, zum Beispiel auch im alten "Buffet" vom Badischen Bahnhof, hatte vor zwei Jahrzehnten die außerordentliche Karriere des Musikers und Spiele-Erfinders Christoph Marthaler so recht begonnen. Erste Fingerübungen in Atmosphäre stiftender Bühnenmusik gab's zwar zuvor auch schon in Zürich und in der freien Szene; aber als dann in Basel Frank Baumbauer Hausherr im Theater war, entstanden die ersten eigenen Marthaler-"Projekte": Liederabende vorzugsweise über den schwierigen Umgang der Schweiz mit sich selber und rätselhafte, nicht leicht zugängliche Text-Erkundungen wie die im "Faust"-Material des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa.

Mit Baumbauers Team zog Marthaler 1992 weiter nach Hamburg und zu Frank Castorf an die Volksbühne nach Berlin, und von hier an war kein Halten mehr. Mancher mag diese 20 Jahre zu mehr oder minder großen Teilen in Erinnerung gehabt haben bei Marthalers jüngster Premiere in Basel; und weil das so war, fiel die Begeisterung so umstandslos und einhellig aus.

Im Vorhinein war viel von einem hoch poetischen Rätselspiel und einer mysteriösen Maskierungsgeschichte die Rede, um die es Marthaler diesmal gehen werde; beides ist im Entstehungsprozess des Abends praktisch in Vergessenheit geraten. Lange, noch bis in den Spielzeitbeginn hinein, firmierte das Projekt auch noch ohne Titel; nicht ganz auszuschließen also ist, dass erst sehr spät die Überschrift zum Kern geworden ist – und "Meine faire Dame" ist jetzt natürlich nichts mehr, aber eben auch nichts weniger als eine radikal versponnene Fantasie über das Musical, das am Vorabend in Basel Premiere hatte, auf der Großen Bühne natürlich: "My fair Lady", der Klassiker von Alan Jay Lerner und Frederic Loewe, inszeniert in Basel von Tom Ryser.

Professor Higgins, der Hagestolz und Fundamentalist der "reinen" Sprache, unterrichtet Eliza Doolittle, das Blumenmädchen aus der Unterschicht, bei Marthalers Bühnenbildnerin Anna Viebrock in einem Sprachlabor, wie es sich in den 70er-Jahren schon jedes bessere Gymnasium leistete; Kassetten-Lernprogramme, Mikrofone und Kopfhörer für den kollektiven Sprachlernprozess gerieten damals in Mode. Ob es solche Sprachlabore überhaupt noch gibt? Viebrock stellt jedenfalls eins auf die Bühne, das wie von damals und fast schon vergessen aussieht.

Mit Englischunterricht der verschärften Art beginnt der Abend für fünf Lernende, einen Lehrer und einen Pianisten; später kommt noch der Organist dazu, der (eine der gröberen Pointen) aussieht wie Frankensteins Monster – auch er ein Lernender. Professor Higgins praktiziert zunächst vor allem Sprachspieldrill – nicht nur mit "The Rain in Spain" und so weiter, sondern gleich mit all den Zungenbrechern, für die das deutsche Pendant "Fischers Fritz fischt frische Fische" hieße; die englischen Varianten sind noch komischer. Wie bei Loriots Muse Evelyn Hamann im Ti-Äitsch-Aussprache-Kampf um "Lady Hesketh-Fortescue" auf Schloss "North Cofflestone Hall".

Von hier aus aber beginnen Lehrer und Lernende viel Eigenleben zu entwickeln, mit Lerners Musical-Themen und ganz viel anderer Musik, von Wagner, Mozart und Massenet über Carl Millöcker bis hin zu "Stille Nacht, Heilige Nacht" und "DÖF", der Deutsch-Österreichischen Freundschaft vom Beginn der Neuen Deutschen Welle (NDW) am Beginn der 80er-Jahre. Musik ist vorzugsweise Surrogat und Substitut der Liebe, die Paare im Ensemble (und jeder und jede für sich) spielen kleine, zauberhafte Motive der Annäherung wie die Rituale des Scheiterns durch. Miss Doolitle ist mit Nikolas Weisse die Doyenne im Ensemble, sie und Graham F. Valentine als Higgins sind am Ende ein tattrig-idyllisches Liebespaar, das einander nur noch bis an den "toten Punkt" begleiten muss, von wo aus es ohnehin nicht weitergeht. Und da hört der Abend dann auch auf.

Noch wie besoffen von Glückshormonen (und von angestrengt unterdrücktem Glucksen und Giggeln, um nicht immer wieder laut loszulachen) hängt das Basler Publikum in den Seilen; es hat vom Schweizer Chansonnier Michael von der Heide und den Opern-Profis Karl Heinz Brandt und Tora Augestad (hin-rei-ßend!) musikalisch sehr fein geschliffene Juwelen vorgeführt bekommen, von Carina Braunschmidt zudem die hohe Kunst des Nicht-Singens. Bendix Dethleffsen und Mahai Grigorin bedienen die Tasten, und der ganze Abend atmet ein und aus im Geiste des Humors in der Musik. Lauter Tricks sind dazu zu bestaunen, lauter Finessen, lauter szenische Miniatürchen aus Marthalers Fantasie-Fundus. Klar – zuweilen wird's albern, und manchmal sieht's auch so aus, als hätten sich jeder und jede im Ensemble vor allem geheime Wünsche erfüllen dürfen. Macht nichts – ohne die oft schon zwanghafte Melancholie ist dies der heiterste, entspannteste Marthaler seit ganz vielen Jahren. Vielleicht seit Basel, damals. Und im Programmheft bekennt dieser liebenswerte Sonderling zudem erstmals die eigene Profession – er sei, das wird da im sehr ulkigen Foto-Comic einer "Was bin ich?"-Folge wie von Robert Lembke heraus getüftelt, im Grunde ein "Tarnkappenmacher". Und dies ist das Geheimnis von Marthalers Tarnkappe: Wer sie aufsetzt, sieht sich fortan zum Verwechseln ähnlich.

Zum Heulen komisch.


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