Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig. Bucherscheinungen: "Mutter Blamage - Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht" (Westend Verlag 2013) sowie "Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen" (Westend Verlag 2014).
Katar ist auch in Deutschland
Die geplante Fußball-WM in Katar steht in der Kritik: Viele Arbeiter bekommen nur Hungerlöhne, es gab Tote. Dabei gäbe es viele Gründe, sich auch über die Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu empören, findet der Journalist Stephan Hebel.
Von Franz Beckenbauer stammt der legendäre Satz: "Ich habe noch keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen." Und niemand wunderte sich wirklich. Die Ausbeutung von Menschen, die all die schönen Fußballstadien und Hotels und Shopping Malls in dem Wüstenstaat bauen, gehört schließlich nicht zu den Spezialgebieten des derzeit einzigen deutschen Kaisers. Und wo er logiert, sind die Massenunterkünfte der rechtlosen Billiglöhner nicht zu sehen.
Für die meisten anderen Deutschen ist Katar weit weg, aber das hindert uns nicht, die Ignoranz des Kaisers offenbar mehrheitlich zu teilen. Wer regt sich darüber auf, dass auch hier, im angeblichen Land der sozialen Marktwirtschaft, Menschen für Hungerlöhne angeheuert und oft sogar ohne Bezahlung ausgebeutet werden?
Hinter dem bräsig genossenen und ängstlich zusammengehaltenen Wohlstand der Mehrheit verschwindet das Schicksal der gar nicht so kleinen Minderheit, auf deren Ausbeutung dieser Wohlstand zu großen Teilen beruht. Sediert vom Merkel-Mantra, es gehe "uns" gut, verschließen wir die Augen vor Verhältnissen, die doch in Wahrheit vielen von "uns" bevorstehen könnten.
Gelegentlich gibt es ein wenig Aufregung, wenn – beispielsweise beim neuen Shoppingcenter "Mall of Berlin" – rumänische Arbeiter erst mit fünf Euro pro Stunde abgespeist und dann auch um dieses Geld zum Teil betrogen werden. Ein paar Journalisten haben berichtet. Aber einen Aufschrei hat es nicht gegeben. Stattdessen haben wir über die centgenaue Höhe eines Mindestlohns diskutiert, der in der Wirklichkeit vieler Menschen gar nicht vorkommt.
Die Befristeten und Teilzeitlerinnen, die Aufstocker und Minijobberinnen
Denn es sind keineswegs nur Wanderarbeiter aus armen Ländern, die sich in diesem reichen Land zu Dumpingpreisen verdingen müssen. An der Armutsgrenze siedeln oft auch die Befristeten und Teilzeitlerinnen, die Aufstocker und Minijobberinnen. Und es siedelt dort die gewachsene Gruppe derer, die ihr prekäres Dasein unter dem Etikett eines eigentlich erstrebenswerten Zustandes fristen: Selbständigkeit.
Selbständigkeit – was einst als Ausdruck menschlicher Autonomie im Privaten verstanden werden konnte und als bürgerliche Selbstbestimmung in der Gesellschaft, das steht heute praktisch nur noch für den Status des Wirtschaftsbürgers. Der Selbständige handelt auf eigene Rechnung. Er gilt als unabhängig – auch das rein ökonomisch verstanden. Er ist das Gegenstück zum „abhängig Beschäftigten".
Beim Selbständigen schwingt immerhin noch Freiheit mit, auch Wohlstand. Das gibt es natürlich. Aber immer häufiger bedeutet die sogenannte Selbständigkeit etwas ganz anderes: Von Arbeitgebern, die zu Auftraggebern werden, beschäftigt, ohne vertraglichen Lohnanspruch, ohne Bezahlung bei Krankheit, ohne Kündigungsschutz, bleibt vielen Selbständigen weniger als der gesetzliche Mindestlohn. Von der Lage oder der Gnade derer, die sie bezahlen oder auch nicht, sind sie nicht selten abhängiger als jeder abhängig Beschäftigte.
Es ist kein Geheimnis, dass viele Unternehmen ihre eigene Befreiung von den Pflichten eines regulären Arbeitgebers systematisch betreiben: Paketdienste, Bauunternehmer, Medien. Die Zahl derjenigen, die unter den Bedingungen der Willkür statt unter der Herrschaft des Rechts arbeiten müssen, wird sich also erhöhen. Nicht „nur" bei denjenigen, die aus der Armut zu uns kommen. Nicht nur in Katar, sondern auch in Deutschland.
Wir aber reden, als lebten wir im uneinnehmbaren Paradies des Wohlstands und der versicherungspflichtigen Vollbeschäftigung. Wir sind blind wie der Kaiser.