Syrische Geflüchtete in der Türkei

Ausgebeutet in der Recyclingindustrie

21:47 Minuten
Ein schlanker schwarzhaariger Mann steht mit  dem Rücken zur Kamera vor einer hohen Mauer auf einer schwach beleuchteten Straße.
3,6 Millionen Syrer und Syrerinnen sind vor dem Krieg in die Türkei geflohen, rund eine Million von ihnen arbeitet im informellen Bereich - zum Beispiel in einer Recyclingfabrik, so wie Ismail. © Deutschlandradio / Emre Caylak
Von Nicole Graaf und Emre Çaylak |
Audio herunterladen
In der türkischen Recyclingindustrie landen vor allem Plastikabfälle aus Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien. Oft arbeiten dort Geflüchtete für wenig Geld mit giftigen Stoffen und Dämpfen - ohne Sozialversicherung und Arbeitsschutz.
Ismail sitzt in einem roten Jogginganzug in seinem Wohnzimmer und wärmt sich die Hände an einem kleinen Elektroheizofen. Das Wohnzimmer ist ein schmaler Raum flankiert von zwei alten Sofas. Ismail stammt aus Syrien und lebt nach seiner Flucht vor dem Bürgerkrieg mit seiner Frau und den beiden Söhnen, acht und fünf Jahre alt, in der südtürkischen Stadt Adana.

"Der Chef besteht darauf, dass ich komme"

Der kleine, hagere Mann Anfang dreißig heißt eigentlich anders, so wie alle Syrerinnen und Syrer, die in dieser Geschichte zu Wort kommen. Er hat einen Schnauzer und dichte Augenbrauen und spricht mit heiserer Stimme. Er hat sich erkältet, aber sein Chef will, dass er trotzdem zur Arbeit kommt.
"Ich weiß noch nicht, ob ich gehe oder nicht. Ich bin krank, eigentlich will ich nicht. Aber ich war seit einer Woche nicht bei der Arbeit und der Chef besteht darauf, dass ich komme."
Ismail arbeitet in einer Fabrik, in der Plastikabfälle recycelt werden. Adana ist eines der Zentren der türkischen Recyclingindustrie. In einem Gewerbegebiet nahe des Flughafens reihen sich unzählige solcher Firmen aneinander. In großen Hallen und auf eingezäunten Freiflächen lagern zu Ballen gepresste Plastikabfälle. In den Hallen stehen Maschinen mit langen Förderbändern, in denen sie verarbeitet werden.
"Ich habe gelernt, wie man das macht. Wir bekommen das Material in Säcken sortiert. Ich nehme es mit den Händen heraus und stecke es in die Maschine. Dann gibt man Säurepulver und einen halben Eimer Wasser dazu. Und dann noch Farbe und Öl. Das Ganze wird dann in der Maschine 14 bis 20 Minuten lang verquirlt."

Material wie aus der Gosse

So wird das Plastikmaterial gereinigt, weich gemacht und dann eingeschmolzen. Am Ende kommen farbige Pellets, Flakes oder Folien heraus, die an Kunststofffabriken verkauft werden, sogenannte Rezyklate. Ismails Frau Fatma ist in der gleichen Fabrik angestellt.
Sie ist Mitte zwanzig, sehr schlank, genau wie ihr Mann, trägt Kajalstift und Make-up. Ihr weißes Kopftuch, das sie mit Nadeln am Hinterkopf festgesteckt hat, liegt eng am Kinn an. Sie ist in einer anderen Sektion beschäftigt. Dort arbeiten fast nur Frauen, erzählt sie:
"Ich sortiere das Plastikmaterial, das, was geschreddert und zu Granulat verarbeitet werden kann. Wir bekommen große Ballen mit Plastikabfall und sortieren Schalen und Behälter heraus. Manchmal ist das Material sehr dreckig. Es sieht aus, als käme es aus der Gosse. Manchmal ist es aber auch sehr sauber. Und manchmal ist es zwar nicht sehr verschmutzt, aber es riecht nach Müll."

Viele Geflüchtete sind nach Adana gezogen

Ismail und Fatma gehören zu den rund 3,6 Millionen Syrerinnen und Syrern, die infolge des Kriegs in ihrem Heimatland in die Türkei geflohen sind. Adana zählt zu den Städten in der Türkei, in denen sich sehr viele von ihnen niedergelassen haben. Bis zur syrischen Grenze sind es von hier aus nur rund 300 Kilometer.
Im landwirtschaftlich geprägten Umland von Adana arbeiten sie auf den Feldern. In der Stadt seit einigen Jahren auch in der Recyclingindustrie, entweder direkt in den Fabriken, oder sie sind auf den Straßen unterwegs und sammeln von Geschäften und öffentlichen Mülleimern Recycelbares ein, das sie über Zwischenhändler an diese Fabriken verkaufen.

"Das fühlt sich sehr erniedrigend an"

So hat der 30-jährige Ali angefangen. Er ist groß, hat eine Halbglatze und ein rundes freundliches Gesicht.
"Das war sehr schwierig für mich. Ich ging nur im Dunkeln zur Arbeit. Ich wollte niemandem begegnen und wollte nicht, dass mich jemand sieht. Ich kannte jemanden, der das machte, und er brachte es mir bei. Er gab mir auch Mut, das zu machen, ohne mich zu schämen.
Das Wichtigste ist, dass man davon leben kann. Es ist besser, als zu betteln. In Syrien kannten mich die Leute, meine Familie hatte einen guten Ruf, wir hatten Geschäfte und Land. Und dann sehen mich dieselben Leute hier und bedauern mich. Das fühlt sich sehr erniedrigend an."
Ein Mann mit Bart und Jeans kniet zwischen zwei Abfallbergen und macht Fotos mit seinem Smartphone.
Recyclingunternehmen verklappen ihre Reste illegal in der Natur - der Journalist Armağan Kabaklı dokumentiert illegal abgeladenen Müll am Stadtrand von Adana.© Emre Caylak
Ali lebt mit seiner Frau in einer einfachen Wohnung nicht weit von Ismails Familie entfernt. Unter dem Fenster in seinem Wohnzimmer liegt eine Matte. Darauf sitzt er jeden Abend und rezitiert aus dem Koran. Für Ali war es besonders schwer, eine Arbeit zu finden, denn er ist in Syrien bei einem Bombenangriff verletzt worden und kann seinen rechten Arm nicht mehr benutzen.

Er sammelte Müll auf der Straße ein

Niemand wollte ihn einstellen. Also sammelte er Müll auf der Straße ein und verkaufte ihn an Zwischenhändler, bis ihm jemand einen Job anbot. 
"Es ist sehr ermüdend und schwierig. Man muss viel zu Fuß laufen. Ich hatte ein Fahrrad gekauft, aber es wurde mir gestohlen. Dann einmal, als ich mein Plastik an die Fabriken im Industriegebiet verkaufte, sagte mir einer, dort sei ein Job zu vergeben. Also habe ich ihn angenommen. Das war Zufall. 
In der Fabrik kommen die Ballen an. Das Material stapelt sich in Bergen, die höher sind als ein Wohnhaus. Wir breiten es auf dem Boden aus und sortieren das Plastik nach Farben und auch nach Material – ob die Maschinen es verarbeiten können, zum Beispiel Wasserflaschen oder kleinere Lebensmittelbehälter. Wir stecken es in große Säcke und das wird dann in einem anderen Bereich der Fabrik weiterverarbeitet."

Verdienst: vier Euro am Tag

Wegen seines Handicaps bekommt Ali nur fünfzig Lira am Tag, das waren Ende November, als wir ihn trafen, rund vier Euro. Andere Arbeiter, wie Ismail, bekommen das Doppelte bis Dreifache. Aber Ali hat kaum eine andere Wahl. Über den Gestank beschwert auch er sich. Neben der Behinderung an seinem Arm bereitet ihm das weitere Probleme. 
Wissenschaftliche Studien belegen, was er am eigenen Leib spürt: Wenn Plastik sich zersetzt, können giftige Stoffe freigesetzt werden.
"Ein Teil des Materials lagert zu Ballen gepresst. Es ist verschmutzt und stinkt. Manchmal trage ich bei der Arbeit zwei Masken übereinander, um den Gestank ein bisschen zu vermeiden. Aber das ist halt unsere Arbeit. Ich habe dem Chef auch gesagt, dass ich seit meiner Kindheit Asthma habe.
Manchmal fühle ich es in meiner Brust und ich bekomme schlecht Luft. Das bereitet mir Probleme, wenn ich mit dem Plastik arbeite. Wenn es eine Alternative gäbe, würde ich diese Arbeit nicht machen."

Recyclingfirmen brauchen billige Arbeitskräfte

Das Viertel, in dem Ali, Ismail und Fatma wohnen, liegt gleich neben dem Industriegebiet mit den Recyclingfabriken. Noch vor sieben, acht Jahren gab es an vielen Stellen dort noch Felder und überwucherte Brachflächen. Heute reihen sich hier Fabrikhallen von Plastikrecyclingfirmen aneinander.
Die Rezyklate gehen an die türkische Kunststoffindustrie. Sie werden verwendet, um neue Produkte herzustellen. Diese Industrie gehört zu den wichtigsten Industriezweigen des Landes. Damit die Rezyklat-Pellets und -Flakes möglichst günstig produziert werden können, brauchen die Recyclingfirmen billige Arbeitskräfte.
Deshalb setzen sie gern Geflüchtete ein. Sie sind fast immer bereit, schwarz zu arbeiten, denn sie haben kaum eine andere Wahl. Eine offizielle Arbeitsgenehmigung zu bekommen, ist für sie äußerst schwierig bis unmöglich. Den Firmen sind sie willkommen. Denn sie zahlen für sie keine Sozialversicherung, die eigentlich in der Türkei vorgeschrieben ist.

Arbeitsprinzip: Hire and Fire

Und sie können sie jederzeit entlassen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Für einen geringen Lohn müssen die Geflüchteten die schwersten und dreckigsten Arbeiten machen und werden auch noch schlecht behandelt. Ismail könnte stundenlang davon erzählen.
"Ich werde oft angetrieben, härter zu arbeiten. Einmal hatten wir acht Ballen mit Material, jeder wiegt 700 oder 750 Kilogramm. Ich muss sie öffnen, sauber machen, trennen und dann zum Mahlen in die Maschine stecken. Ich schwöre zu Gott! Mehrere Tonnen Material, aber der Vorarbeiter sagte, das ist doch nicht viel. Dabei schaffen zwei Frauen an einem Tag nur sechs Ballen.
Ich hatte an dem Tag nur eine halbe Stunde Pause. Da habe ich eine Zigarette geraucht, einen Tee getrunken und ganz schnell etwas gegessen. Ich sagte: ‚Um acht Uhr mache ich Feierabend.‘ Aber der Vorarbeiter sagte: ‚Nein, du kannst erst gehen, wenn die Arbeiter für die Nachtschicht kommen.‘ Was ist, wenn die erst später kommen? Soll ich dann etwa bis 22 Uhr durcharbeiten? "

In ein Becken mit kaltem Wasser steigen

Häufig wird Ismail für die Nachtschicht eingeteilt, um die Recyclingmaschine zu reinigen.
Dafür muss er in ein Becken mit kaltem Wasser steigen, in dem die geschredderten Plastikabfälle gewaschen werden. Im Winter, wenn es selbst hier in der Südtürkei nur zehn, fünfzehn Grad warm wird, hat man sich da schnell erkältet.
"Letzte Woche musste ich nachts dieses Becken sauber machen. Danach waren meine Schuhe und Socken hinüber. Es gab einen Stromausfall, aber der Vorarbeiter brachte eine Elektrobatterie und schloss eine Lampe daran an, und damit mussten wir weitermachen. Es hat fast eineinhalb Stunden gedauert. Deshalb bin ich jetzt krank. "
In einer Hand liegen über einem großen Behälter kleine rote Kunstoffteilchen, die aussehen wie Linsen.
Aus Plastikabfall gewonnenes Rezyklat aus einer Fabrik in Adana. Sie verkauft es als Sekundärrohstoff an die Kunststoffindustrie.© Emre Caylak
Ismail hat Besuch von seinem Kollegen bekommen. Hussein, ein schlaksiger junger Mann mit glatten schwarzen Haaren und Jeans, hat auf dem Sofa Platz genommen. Fatma bringt ein Tablett mit Tee, setzt sich dann wieder neben ihren Mann und steckt sich eine Zigarette an. Die Kinder turnen neben dem Gast auf dem Sofa herum.

"Du musst tun, was ich sage"

Hussein ist erst 19 Jahre alt und kam mit 14 allein aus Syrien. Er arbeitete erst in einem Laden in Adana, dann als Landwirtschaftshelfer in Antalya und kam schließlich wieder zurück nach Adana. Dort fand er einen Job in der gleichen Fabrik, in der auch Ismail arbeitet. Drei Monate hielt er es dort aus. An jenem Abend, als der Vorarbeiter von Ismail und ihm verlangte, im Dunkeln das Wasserbecken der Maschine zu reinigen, reichte es ihm.
"Dieses Becken war so schmutzig wie ein Abwassertank. Der Chef verlangte, dass ich da reinsteige, aber ich weigerte mich. Es war so dreckig und Ismail wurde krank deswegen.
Der Vorarbeiter sagte:'Ich bin der Chef und du bist der Angestellte, du musst tun, was ich sage.' Ich wohnte zu der Zeit auch in der Fabrik, und er warf mich hinaus. Im Moment bin ich bei einem Freund untergekommen."
Wenn einer geht, kommt gleich ein anderer, der Arbeit sucht. So läuft das hier. Auch Ismail hat mehrfach die Firma gewechselt.
"Wir sind insgesamt sechs Syrer in meiner Fabrik. Die syrischen Arbeiter wechseln oft, denn wir werden schlecht behandelt. Wir sind den Chefs völlig egal."
Am Tag darauf hat sich Ismail entschieden, doch wieder zur Arbeit zu gehen. Er hat Nachtschicht und soll wieder die Maschine reinigen. Wir begleiten ihn im Auto dorthin und lassen uns die Fabrik von ihm zeigen.

Medien sind unerwünscht

Die engen Gassen zwischen den Fabriken sind in schummriges Licht der Straßenlaternen getaucht. Auch die Halle von Ismails Firma ist schlecht beleuchtet. Durch das große Tor verliert sich der Blick im Dunkel. Im hinteren Bereich erkennt man schemenhaft die Recyclingmaschine, eine Anordnung aus einem langen Förderband und Trichtern.
Davor stapeln sich Ballen mit Plastikmüll bis an die Decke. Auf dem Boden liegen überall Tüten und andere Verpackungsreste herum. Wir fahren langsam an der Halle vorbei und um die Ecke. Ismail direkt vor der Tür abzusetzen, wäre sehr riskant für ihn. Wenn sein Chef mitbekommt, dass er mit Journalisten spricht, wäre er wahrscheinlich seinen Job los.
Die Recyclingunternehmer in Adana sind sehr nervös, denn Umweltschützer werfen ihnen vor, der Umwelt zu schaden, indem sie illegal ihre Reste in der Natur verklappen.
Plastikabfälle sind ein weltweit gehandelter Rohstoff. Die türkischen Recyclingunternehmen machen gute Gewinne, indem sie ihr Rezyklat an die heimische Plastikindustrie verkaufen, die stark auf diese Sekundärrohstoffe angewiesen sind, denn Plastik aus Rohöl herzustellen ist teuer.

Teile des Mülls landen in der Natur

Bis vor kurzem kam ein Großteil ihres Materials aus Europa. Für europäische Müllverwerter lohnt sich der Export ins Ausland ebenfalls. Denn bei Materialien, die aufwendig zu recyceln sind, geht das günstiger in Ländern, wo die Lohnkosten niedriger sind als beispielsweise in Deutschland. Seit die Branche in Adana so gewachsen ist, klagen Umweltschützer und Anwohner jedoch immer wieder über die Umweltverschmutzung, die sie verursacht. Denn ein Teil des Mülls landet in der Natur.
Der Journalist  Armağan Kabaklı hat mehrfach darüber berichtet, welche Probleme die Recyclingfirmen in Adana verursacht haben.
"Nachdem China und Malaysia keinen Plastikabfall mehr annahmen, wurde die Türkei zum größter Importeur aus der EU", sagt er.
Der große schlaksige 38-Jährige führt einen unabhängigen Videokanal auf Youtube namens Birbuçuk. Dort veröffentlicht er Lokalnachrichten aus Adana und Talk-Sendungen. Sein Büro liegt in der Nähe eines beliebten Kneipenviertels.

"Kontrollen für das Recycling sind zu schwach"

Kabaklı sitzt auf einem geschwungenen Sofa, auf dem er normalerweise seine Talkgäste platziert. Er trägt einen schicken dunkelblauen Anzug mit Weste darunter, edle braune Herrenschuhe und hat die Haare zur Seite gescheitelt.
"Das meiste von dem Plastikabfall, der in die Türkei kommt, landet bei Importeuren in Adana. Diese Recyclingfirmen machen daraus Rezyklate. Sie behaupten, dass sie so Devisen ins Land bringen und auch etwas Gutes für die Umwelt tun. Aber das stimmt nicht. Sie arbeiten nicht nach den Regeln, und die Kontrollen für dieses Recycling in der Türkei sind zu schwach. "
Wozu das führt, sieht man nur wenige hundert Meter außerhalb des Gewerbegebiets. Ein kleiner, begradigter Fluss, der an den Fabriken vorbeifließt, führt hier Richtung Süden, wo er ins Meer mündet. An seinen Böschungen wächst Schilf.
Dazwischen findet sich auf rund zwei Kilometern stadtauswärts Müll, meist Reste von Lebensmittelverpackungen aus Plastik. Manches davon ist verbrannt. Auch im Fluss selbst schwimmen Verpackungen oder verbrannte Reste.

Plastikabfälle aus Deutschland

Wir haben diese Gegend schon einmal Ende 2020 besucht. Damals waren die Haufen noch größer und wir haben vor allem Plastikabfälle aus dem Ausland gefunden, vor allem aus Großbritannien, den Niederlanden - und aus Deutschland.
Der Syrer Ismail weiß, wie der Müll dort hingelangt. Bevor er vor sechs Monaten zu seinem jetzigen Arbeitgeber kam, hat er einige Jahre bei einer anderen Recyclingfirma gearbeitet. Dort gehörte es zu seinem Job, mit anderen syrischen Kollegen alle paar Tage die nicht verwertbaren Reste zum Fluss zu fahren und dort abzuladen. Als wir ihn damals schon einmal trafen, beschrieb er uns, wie das ablief.
"Die Entsorgung für diesen Restmüll müsste die Firma bezahlen. Deshalb überlässt man es uns, uns darum zu kümmern. Dann rufen sie sechs oder sieben von uns zusammen. Das passiert ziemlich oft.
Manchmal haben sich da ein oder zwei Tonnen Restmüll angesammelt, und den müssen wir dann am Fluss abladen. Wenn es so viel ist, dann verteilen wir das an verschiedenen Stellen am Fluss. Einer steht dann oben an der Böschung und ein anderer schaufelt es weiter in den Fluss hinein."

Der öffentliche Druck wächst

Die Plastikabfälle, die Ismails früherer Arbeitgeber verarbeitete, stammten auch aus Deutschland. Ismail erinnert sich, dass hin und wieder Inspektoren aus Deutschland kamen, um zu schauen, ob mit der Fabrik alles in Ordnung ist.
"Ein paar Mal kamen Kontrolleure in die Fabrik, aber wir durften sie nicht treffen. Uns wurde befohlen, in der Zeit außerhalb der Fabrik zu warten. Einmal kamen welche aus Deutschland, ich erinnere mich, das war eine große Gruppe.
An dem Tag, als die Chefs davon erfuhren, sagten sie uns, wir sollten die ganze Fabrik gründlich sauber machen. Das ging bis Mitternacht. Und dann sagten sie uns, wir sollen nicht in die Fabrik zurückkommen, bis sie uns rufen. Wir sind an dem Tag erst nach 13 Uhr wieder zur Arbeit gegangen."
Dass solche sogenannten „Kontrollen“ internationaler Verarbeitungs- und Lieferketten nicht viel bringen, kennt man auch aus anderen Branchen, zum Beispiel der Bekleidungsindustrie. In diesem Fall führten sie dazu, dass jahrelang Plastikabfälle aus Deutschland und anderen europäischen Ländern die Umwelt in der Türkei verschmutzten und dabei auch Geflüchtete ausgebeutet wurden. Doch mit steigender Umweltbelastung wuchs auch der öffentliche Druck.

Abfall aus Deutschland nimmt zu

Im Mai untersagte die türkische Regierung den Import der meisten Sorten von Plastikabfällen aus dem Ausland. Diesen generellen Importstopp nahm sie auf Druck der Industrie wieder zurück, stattdessen wurden Quoten für Importmaterial eingeführt. Die lokalen Firmen mussten ihre Importlizenzen erneuern und dafür nachweisen, dass sie technisch imstande sind, sauber zu recyceln.
De facto sind die Importmengen zunächst zurückgegangen, jene aus Deutschland stiegen in den letzten Monaten aber wieder an.
Eine Hand hält eine Käseaufschnitt-Tüte mit deutscher Aufschrift - gefunden auf einer Müllhalde in der Türkei.
Verpackung mit deutscher Aufschrift, gefunden in illegal abgeladenem Müll am Stadtrand der südtürkischen Stadt Adana. © Deutschlandradio / Emre Çaylak
Schlecht ausgestattete Firmen wie jene, in der Ismail und Fatma arbeiten, operieren ohnehin einfach weiter unabhängig von den Regeln.
"Die arbeiten da illegal. Wenn die Schicht anfängt, dann wird das Tor zugemacht, so dass niemand von außen etwas sehen oder die Maschinen hören kann", sagt Ismail. "Den ganzen Tag kommt niemand außer den  Arbeitern dort rein. Der Strom wird auch illegal abgezapft, das hat mir ein anderer syrischer Arbeiter erzählt, der schon viele Jahre dort ist."

Dämpfe dünsten aus Plastikabfällen

Ismail erzählt, die Maschine sei sogar mit einem Schalldämpfer ausgestattet, damit man von außen nichts hört. Um den Bedarf zu decken, mussten die Recyclingunternehmen während des Importstopps auf lokale Plastikabfälle zurückgreifen. Weil die Türkei keine Mülltrennung wie in Europa kennt, sind diese Abfälle jedoch stärker verschmutzt, da sie mit Essensresten und anderem Müll in der gleichen Tonne lagen.
Für die Arbeiter in den Fabriken bedeutet das, dass ihre Arbeitsbedingungen noch härter geworden sind. Ismail zeigt ein Video auf seinem Handy, dass er in seiner Fabrik aufgenommen hat. Es zeigt, wie aus Säcken mit Plastikabfällen Dämpfe herausdünsten.
"Es ist so ekelhaft, dass wir nichts essen mögen. Wir haben zwar einen separaten Raum für die Essenspausen, aber der ist direkt nebenan, sodass der Gestank auch dahin dringt.
Wir müssen schnell essen und dann direkt weiterarbeiten. Und wenn man einen Tee trinken möchte, dann muss man das direkt neben der Maschine machen, wo all dieser Dreck ist. Nur die Frauen dürfen neben der Mittagspause auch eine richtige Teepause machen. Manchmal wünschte ich, ich wäre eine Frau."

Stark verschmutzte Abfälle

Seine Frau ist allerdings auch alles andere als glücklich mit ihrer Arbeit. Auch die Abfälle, die sie verarbeiten muss, sind jetzt viel häufiger stark verschmutzt, erzählt sie.
"Ich arbeite seit zwei Jahren mit, und wir können immer noch nicht die etwa 420 Euro zurückbezahlen, die wir uns geliehen haben. Wir haben einfach zu viele Ausgaben: Miete, Strom, Wasser und die Lebensmittel. Wenn ich zur Arbeit muss, fühle ich mich müde und frustriert. Mein ältester Sohn ist acht, er sollte in die Schule gehen. Aber das können wir uns nicht leisten."

Anmerkung der Redaktion: Die Namen der syrischen Arbeiterinnen und Arbeiter wurden aus Rücksicht auf ihre Sicherheit geändert. Die aktuelle Recherche wurde unterstützt von Journalismfund.eu.

Abonnieren Sie unseren Denkfabrik-Newsletter!

Hör- und Leseempfehlungen zu unserem Jahresthema „Es könnte so schön sein… Wie gestalten wir Zukunft?“. Monatlich direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema