Ausbildung

Bundesregierung tut zu wenig für "abgehängte" Jugendliche

Heike Solga im Gespräch mit André Hatting |
Die Bundesregierung kümmert sich aus Sicht der Bildungssoziologin Heike Solga zuwenig um die Chancen gering qualifizierter Jugendlicher auf dem Arbeitsmarkt. Es müsse mehr getan werden, um "diese Abgehängten nicht so frühzeitig im Leben abzuhängen".
André Hatting: Deutschlands Wirtschaft wächst und wächst, immer mehr Menschen haben Arbeit. Mit 41,8 Millionen war 2013 wieder ein Rekordjahr, das siebte in Folge. Für dieses Jahr sind die Prognosen erneut gut, im europäischen Vergleich sogar Spitze. Das ist aber nur die eine Seite, denn gleichzeitig wächst die Zahl der Abgehängten in Deutschland. Das werden die aktuellen Arbeitsmarktzahlen heute wieder belegen, mehr Stellen bedeuten nicht automatisch weniger Arbeitslose. Abgehängte, das sind Menschen, die selbst bei boomender Konjunktur keinen Job bekommen.
Über genau dieses Problem möchte ich jetzt mit Heike Solga sprechen. Sie ist Direktorin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, ihr Schwerpunkt: soziale Ungleichheit und ihre Verfestigung. Für diese Forschung bekommt sie Ende Januar den Wissenschaftspreis des Landes Berlin verliehen. Guten Morgen, Frau Solga!
Heike Solga: Schönen guten Morgen!
Hatting: Wer wird denn besonders oft abgehängt?
Solga: Im Prinzip gibt es zwei Gruppen, die abgehängt werden. Das eine sind Personen, die in Regionen leben, die nicht so boomen, und das andere sind vor allem Personen mit geringer Bildung.
Hatting: Bei der zweiten Personengruppe scheint mir das Rezept relativ leicht zu sein: mehr Bildung!
Solga: Ja, das klingt leicht, ist aber doch schwer. Weil, natürlich haben alle diese Personen in der Regel das deutsche Bildungssystem durchlaufen und dennoch zu geringe Kompetenzen. Das heißt, wir schaffen es mit unserer Schule und mit unserem Ausbildungssystem nicht, diesen Menschen die Kompetenzen zu vermitteln, die wir auf dem Arbeitsmarkt brauchen.
"Traumatische, dramatische Erfahrungen in der Familie"
Hatting: Warum?
Solga: Das hat unterschiedlichste Gründe. Zum einen sollte man sagen, dass unsere Schule nicht dafür ausgerichtet ist, dass sie allen Personen einen Unterricht bietet, der sie lernen lässt. Das kann persönliche, private Gründe haben, dass Kinder und Jugendliche unterschiedliche traumatische, dramatische Erfahrungen in ihrer Familie machen, die den Lernprozess behindern können und sie dann in der Schule und damit auch später abhängen. Und das kann Probleme bei der Ausbildung geben, dass man eben die Ausbildung abbricht aus unterschiedlichsten Gründen und dann nie wieder reinkommt in eine Ausbildungsstelle.
Hatting: Wenn Sie sich den Koalitionsvertrag der Regierung anschauen, finden Sie darin die richtigen Rezepte dagegen oder, anders formuliert, für den Kampf gegen die Abgehängten?
Solga: Mein Problem mit dem derzeitigen Koalitionsvertrag, so wie er formuliert ist, ist, dass er sich sehr stark auf den oberen Bildungsbereich richtet, also insbesondere Hochschulen, aber auch, wie wir Begabtenförderung machen können, und relativ wenig darüber enthält, wie wir eigentlich es besser schaffen, diese Abgehängten nicht so frühzeitig im Leben abzuhängen.
Hatting: Können Sie dafür mal ein konkretes Beispiel nennen, was man da tun könnte? Denn es betrifft ja vor allem auch viele Jugendliche. Ich habe nachgelesen, dass es offensichtlich jeden fünften Jugendlichen zwischen 15 und 21 betrifft.
Solga: Genau. Also, ein Punkt, der angesprochen wird im Koalitionsvertrag, der aber nicht ausgeführt wird, ist die sogenannte Ausbildungsgarantie, die jedem motivierten und fähigen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen soll. Nun sind Begriffe wie "motiviert" und "fähig" sehr dehnungsfähig und Sie werden dann genau die Jugendlichen nicht erreichen, über die wir gerade sprechen, die nämlich als nicht ausbildungsreif oder nicht ausbildungswillig gelten. Und das ist ein Problem und da könnte man viel tun. Man könnte die ganzen berufsvorbereitenden Maßnahmen deutlich umstrukturieren, dass sie mit Richtung Ausbildungsplatz, Übergang in eine vollwertige Ausbildung strukturiert werden, und das kann im Zweifelsfall dann auch an der Berufsschule geschehen in Kooperation mit Betrieben.
Hatting: Also auch mehr Betreuung?
Solga: Deutlich mehr Betreuung. Das ist Teil des Koalitionsvertrags mit den sogenannten Berufsbegleitern. Das ist sicherlich wichtig, Orientierung und Beratung zu geben, denn wir dürfen nicht unterschätzen, dass viele Jugendliche aus dem Elternhaus nicht die Beratung und Betreuung beim Übergang von der Schule in die Ausbildung und bei der Begleitung in der Ausbildung haben, wie wir es für selbstverständlich voraussetzen.
Hatting: Bei fast drei Millionen Menschen ist Hartz IV in Deutschland mittlerweile Dauerzustand. Sie haben das vorhin schon angesprochen, das ist nicht nur ein Bildungsproblem, sondern das hat eben auch mit den unterschiedlichen Regionen und deren wirtschaftlichen Stärke zu tun. Wie bekämpft man das? Man kann ja nicht einfach dafür sorgen, dass ländliche Regionen sofort zu einer boomenden Region werden.
Solga: Man müsste in diesen Regionen Strukturhilfe insofern schaffen, dass es viele Aufgaben gibt, die notwendig sind auch in diesen Regionen und dann im Zweifelsfall gesellschaftlich, staatlich gefördert werden müssen. Denn es nützt auch nichts zu sagen, diejenigen, die sich Mobilität leisten können, sollen aus diesen Regionen abwandern, dann wird das eine Abwärtsspirale für diese Regionen, in denen sie sowieso schon zum Teil sind. Also, es gibt vielfältige Aufgaben wie die Altenpflege, die Betreuung von Kindern, gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die das Städtebild betreffen, die die Kultur betreffen, die auch in diesen Regionen notwendig und wichtig sind und die diese Regionen dann, wenn sie dort gemacht werden, möglicherweise auch wieder attraktiver für Unternehmen machen.
"Auf eine 75-Prozent-Beschäftigung gehen"
Hatting: Fakt ist allerdings auch, dass ein immer kleineres Arbeitsvolumen in Deutschland auf immer mehr Menschen aufgeteilt werden soll. Ist das mehr als nur ein Fehler im System, ist vielleicht das System der Fehler?
Solga: Na ja, über Arbeitsvolumen kann man ja in unterschiedlicher Weise sprechen. Wenn Sie sich die Überstunden anschauen, die viele derzeit Beschäftigte haben, dann könnte man auch fragen, ob man daraus nicht reguläre Arbeitsplätze, zusätzliche Arbeitsplätze schaffen könnte.
Hatting: Wie könnte man das schaffen?
Solga: Es gibt Vorschläge, die zu überlegen wären, ob wir nicht alle, Männer wie Frauen, auf eine 75-Prozent-Beschäftigung gehen und damit auch andere Aufgaben wieder stärker übernehmen können, die auch zum Leben gehören, wie die Betreuung der Kinder, die Betreuung der Eltern …
Hatting: Ehrenamtliche Tätigkeiten.
Solga: Ehrenamtliche Tätigkeiten, ganz genau. Also, von daher gäbe es ganz unterschiedliche Lösungen, die sicherlich für alle auch dazu beitragen würden, die Lebensqualität zu erhöhen.
Hatting: Heike Solga, Direktorin der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Solga.
Solga: Ja, Wiederhören, schönen Tag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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