Ausbildung von morgen

Lass mal die Azubis machen!

06:35 Minuten
Illustration eines Kopfes und einer Hand. Über der Hand schwebt eine Glühbirne. Um Kopf und Hand entsteht ein energetischer Wirbel aus Sternen und magnetischen Linien.
Die Berufsausbildung ist im Umbruch: Es geht verstärkt darum, Kreativität, Selbstvertrauen und Entscheidungsfähigkeit zu stärken. © Getty Images / iStockphoto / dickcraft
Von Lydia Jakobi |
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Die Anweisungen des "Lehrmeisters" zu befolgen, ist beim Erlernen eines Berufes längst nicht mehr das Entscheidende. Gefragt sind inzwischen Kreativität, Flexibilität und Verantwortungsgefühl. Viele Unternehmen reformieren deshalb ihre Ausbildung.
Michael Koch öffnet die Glastür zur Strahlentherapiestation der Uniklinik Dresden. Davor warten zwei Besucherinnen und wedeln mit ihren Corona-Testzertifikaten. „Sie wollen hier zu uns rein? Kleinen Moment!“ Koch prüft die Zettel und schickt die Frauen in eines der neun Bettenzimmer. Hier sind Krebspatientinnen und -patienten untergebracht, die zu schwach sind, um selbstständig zur Bestrahlung zu kommen.

Die Auszubildenden übernehmen das Ruder

Michael Koch ist der pflegerische Leiter der Strahlentherapiestation. Normalerweise. Denn zwei Wochen im Jahr übernehmen die Auszubildenden hier das Ruder.
„Das ist tatsächlich eine spannende Sache, die neue Generation der Pflegenden heranzuführen und ihnen im Endeffekt noch im Laufe ihrer Ausbildung Verantwortung auch mitzugeben: Wie organisiert ihr einen Ablauf auf einer Station, euren Tagesablauf? Es ist noch jemand da, der euch hilft, aber ihr könnt wirklich allein entscheiden“, erklärt er.
Die Uniklinik hat das Praxisprojekt im Herbst 2021 gestartet. Seitdem dürfen die Pflegeschülerinnen und -schüler des dritten Lehrjahres für zwei Wochen die Strahlentherapiestation leiten. Die erfahrenen Mitarbeiter halten sich im Hintergrund. Die Auszubildenden führen Patientengespräche, verwalten die Medikamente oder nehmen zitternd die Anrufe der Oberärzte entgegen.
Ziel ist es, Selbstvertrauen und Verantwortungsgefühl zu stärken. Yahya Alhukab war beim ersten Projektdurchlauf dabei und arbeitet seit einem Jahr als Pfleger in der Strahlentherapie. Er erinnert sich.
„Ein Schüler ist verantwortlich für drei Patienten. Das fängt mit Übergabe an, erst mal diskutieren: Die Krankheitsbilder. Wie haben die geschlafen? Das war für uns, sage ich ganz ehrlich, am ersten Tag nicht einfach“, erzählt er.

Eine Woche vorher waren alle ein bisschen durcheinander: Wie soll das überhaupt werden? Ob das alles funktioniert? Es war aufregend und zugleich auf jeden Fall ein cooles Gefühl.

Yahya Alhukab, Pfleger

Paula Risius forscht am Institut der Deutschen Wirtschaft Köln zu den Themen Fachkräftesicherung und Ausbildung im digitalen Wandel. Das Projekt der Uniklinik Dresden ist ein gutes Beispiel für einen allgemeinen Trend. Die Berufsausbildung sei im Umbruch, sagt Risius, weil sich auch die Arbeitswelt verändere. Oder um es herunterzubrechen: Es reicht nicht mehr, zu lernen, wie man für die nächsten 30 Berufsjahre die Feile ans Werkstück setzt.

Das VUCA-Phänomen bestimmt die Arbeitswelt

„Das wird auch oft mit dem Phänomen VUCA-Welt umschrieben“, erklärt sie. „Das heißt: Die Arbeitswelt wird schneller, volatiler. Dafür steht das V. Unsicherer, dafür steht das U. Komplexer – K. Und das vierte Stichwort ist Ambiguität, Doppeldeutigkeit. Das heißt, wir sind nicht mehr mit einer ganz klaren Arbeitswelt konfrontiert, ich habe nicht mehr die eine Lösung, ich habe ganz verschiedene Lösungen.“
Deshalb seien Flexibilität, Kreativität und Entscheidungsfähigkeit gefragt, sagt Risius. Solche Kompetenzen vermittelt das IW Köln zusammen mit den Bildungswerken der Wirtschaft im „Netzwerk Q 4.0“. Es richtet sich an Ausbilderinnen und Ausbilder und vermittelt Wissen zu digitalen Veränderungen genauso wie didaktische Fähigkeiten.

Viele Ausbilderinnen und Ausbilder haben noch dieses alte Rollenbild gelernt, das nennt sich dann Unterweiser. Die müssen jetzt eben auch umlernen: Wie verhält man sich, wenn man jemanden beim Lernen nur noch begleitet, ohne ständig nach vorne zu gehen und zu sagen: Nein, du machst das aber falsch. Sondern Leute auch mal laufen zu lassen.

Paula Risius, Institut der Deutschen Wirtschaft Köln

Azubis erarbeiten ihr Wissen selbst

Der Volkswagen-Konzern setzt diese Idee in seinem Wolfsburger Werk regelrecht radikal um. Vor einem Jahr hat das Unternehmen seinen Pilotversuch „Third Place“ gestartet. Keiner sagt mehr, wie es geht. Stattdessen erarbeiten sich die Azubis ihr Wissen selbst.
Edgar Frey verantwortet in Wolfsburg die Ausbildung in den Elektrotechnikberufen. Aus seiner Feder stammt das Konzept. Der 37-Jährige hatte vor 20 Jahren selbst bei VW gelernt, damals noch traditionell frontal und hierarchisch. Und jetzt?
„Auszubildende haben Lernräume, in denen sie sich frei bewegen können“, erklärt er. „Das Ganze erinnert ein wenig an ein FabLab, also an offene Werkstätten. Da stehen Sofas drin, da ist eine Tribüne gebaut, da stehen 3-D-Drucker und Lasercutter. Da fliegen auch Drohnen durch die Luft oder selbstfahrende kleine Fahrzeuge.

Auszubildende können sich ihre Lernprojekte selbst gestalten und kreieren. Sie arbeiten in kleinen Gruppen zusammen und bewältigen weitgehend ihre Problemstellungen selbst.

Edgar Frey, Volkswagen

Bislang sind rund 70 Auszubildende und zwei Dutzend dual Studierende im Pilotprojekt untergebracht.

Flache Hierarchien, gute digitale Ausstattung

Folgt man Achim Dercks, dem stellvertretenden Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer, dann dürfte das freie Lernen den Wünschen der jungen Generation entsprechen.
„Dazu gehört zum Beispiel, dass man sie früh in Projektarbeit einbindet, dass man flache Hierarchien anbietet und all diese Dinge. Gute digitale Ausstattung. Das sind alles Themen, die viele Unternehmen umtreiben und weiß Gott kein Einzelfall“, erklärt er.

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Trotzdem: Am Anfang habe die neue Ausbildung im VW-Werk manchen verwirrt.
Edgar Frey gibt die Schilderungen eines jungen Mannes wieder: „Der hat erst mal erwartet, dass er von vorn beschallt und unterrichtet wird, und war irritiert. Das hat er zugegeben, weil das ja etwas ganz Neues ist, und er auch am Anfang nicht wusste, ob das für ihn funktionieren würde. Dann hat er aber auch gesagt, dass er sich im Nachhinein wünscht, genauso eine Schule besucht zu haben.“
Geht es nach Frey, dann soll das Projekt verstetigt werden. Obwohl es für VW teurer ist als die klassische Ausbildung. Ob es funktioniert, muss sich erst noch zeigen. Die Azubis, die nach dem neuen Konzept lernen, legen bald ihre Prüfungen ab.
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