Ausbruch aus der Realität
Es wäre einfach, dem neuen Buch von Siegfried Lenz vorzuwerfen, dass das Erzählte nicht nur unwahrscheinlich, sondern ganz und gar unrealistisch ist. Wenn es in diesem schmalen Buch überhaupt um etwas geht, dann darum, die Realität immer wieder zu spiegeln und sie in eine verwirrende Inszenierung zu verwandeln.
Das Gefängnis, in dem die Geschichte beginnt und endet, ist kein realer Ort, sondern wohl eher parabelhaft zu verstehen. Die Häftlinge, die sich dort aufhalten, sind keine fiesen Verbrecher, sondern, so wie Lenz sie zeichnet, ganz sympathische, skurrile Lebenskünstler: ein Heiratsschwindler ist dabei, ein Schiedsrichter, der Spiele verschoben hat, ein falscher Polizist, der am Straßenrand Bußgelder kassierte.
Der Ich-Erzähler ist Germanist mit dem Spezialgebiet "Sturm und Drang". Er hat Studentinnen zu prächtigen Examensnoten verholfen, wenn sie zuvor mit ihm ins Bett gingen und muss dafür vier Jahre absitzen. Gewalt, Macht, Intrigen, Stumpfsinn gibt es nicht in Lenz' Gefängniskosmos. Hier sind alle nett zueinander.
Während einer Theateraufführung der "Landesbühne" (sie zeigt aus symbolischen Gründen ein Stück mit dem Titel "Das Labyrinth, wo ein Polizist auf der Bühne verloren geht") gelingt den Häftlingen die Flucht. Sie besteigen den Bus der Theatergruppe und fahren unbehelligt davon. In einer benachbarten Kleinstadt werden sie als vermeintliche Schauspieler freudig begrüßt, denn dort feiert man gerade das "Nelkenfest" und kann Kultur aller Art dringend gebrauchen.
Also mutieren die Häftlingen zu Sängern, sie gründen – wie könnte es bei Lenz anders sein – ein "Heimatmuseum", und der Ich-Erzähler hält Volkshochschulkurse ab. Alle sind glücklich, das öde Städtchen wird endlich lebendig, selbst der Gefängnisdirektor, der – oh Wunder – im Publikum sitzt, scheint zufrieden, als wäre die Flucht gar kein Thema.
Nach ein paar Wochen (der Verlauf der Zeit ist aufgehoben) werden die Schauspieler vom Bürgermeister des Ortes mit Orden geehrt, anschließend aber im Hof des Gebäudes in den Bus verfrachtet und zurück ins Gefängnis befördert: Ordnung muss sein. Einer der Häftlinge bringt sich um, was plötzlich eine tragische Dimension des Spieles erkennen lässt. Auch die echte "Landesbühne" kehrt zurück und zeigt noch ein Stück: diesmal Becketts "Warten auf Godot". Nachtigall, ick hör dir trapsen: Flucht, so die Lehre am Ende, lohnt sich nicht. Besser ist es, zusammenzustehen und Freundschaft zu pflegen. Denn das Leben ist doch sowieso nur Leere und Warten.
Realismus ist das alles nicht. Aber was dann? Ein Gleichnis auf das Leben und die verwandelnde Kraft der Kunst? Eine existentielle Parabel auf die Relativität der Freiheit und die Vergeblichkeit jeder Entkommensbemühung? Eine Gattungsbezeichnung fehlt wohlweislich. Für einen Roman ist das Geschehen zu dünn, für eine Erzählung zu krude, für eine Novelle zu unbedeutend.
Lenz erzählt mit permanentem Augenzwinkern. Doch jede mögliche "Moral von der Geschicht" ist denkbar bieder, so wie auch Tonfall, Personal und Einfälle von altbackener Harmlosigkeit sind. Vor einem Jahr erschien die großartige, berührende Novelle "Schweigeminute", in der Lenz noch einmal seine ganze Meisterschaft zeigte. Was hat ihn bloß dazu gebracht, jetzt diesen verschmockten Text zu publizieren, der auch in den 50er-Jahren schon angestaubt und weltfremd gewirkt hätte?
Besprochen von Jörg Magenau
Siegfried Lenz: Landesbühne
Hoffmann und Campe, Hamburg 2009
120 Seiten, 17 Euro
Der Ich-Erzähler ist Germanist mit dem Spezialgebiet "Sturm und Drang". Er hat Studentinnen zu prächtigen Examensnoten verholfen, wenn sie zuvor mit ihm ins Bett gingen und muss dafür vier Jahre absitzen. Gewalt, Macht, Intrigen, Stumpfsinn gibt es nicht in Lenz' Gefängniskosmos. Hier sind alle nett zueinander.
Während einer Theateraufführung der "Landesbühne" (sie zeigt aus symbolischen Gründen ein Stück mit dem Titel "Das Labyrinth, wo ein Polizist auf der Bühne verloren geht") gelingt den Häftlingen die Flucht. Sie besteigen den Bus der Theatergruppe und fahren unbehelligt davon. In einer benachbarten Kleinstadt werden sie als vermeintliche Schauspieler freudig begrüßt, denn dort feiert man gerade das "Nelkenfest" und kann Kultur aller Art dringend gebrauchen.
Also mutieren die Häftlingen zu Sängern, sie gründen – wie könnte es bei Lenz anders sein – ein "Heimatmuseum", und der Ich-Erzähler hält Volkshochschulkurse ab. Alle sind glücklich, das öde Städtchen wird endlich lebendig, selbst der Gefängnisdirektor, der – oh Wunder – im Publikum sitzt, scheint zufrieden, als wäre die Flucht gar kein Thema.
Nach ein paar Wochen (der Verlauf der Zeit ist aufgehoben) werden die Schauspieler vom Bürgermeister des Ortes mit Orden geehrt, anschließend aber im Hof des Gebäudes in den Bus verfrachtet und zurück ins Gefängnis befördert: Ordnung muss sein. Einer der Häftlinge bringt sich um, was plötzlich eine tragische Dimension des Spieles erkennen lässt. Auch die echte "Landesbühne" kehrt zurück und zeigt noch ein Stück: diesmal Becketts "Warten auf Godot". Nachtigall, ick hör dir trapsen: Flucht, so die Lehre am Ende, lohnt sich nicht. Besser ist es, zusammenzustehen und Freundschaft zu pflegen. Denn das Leben ist doch sowieso nur Leere und Warten.
Realismus ist das alles nicht. Aber was dann? Ein Gleichnis auf das Leben und die verwandelnde Kraft der Kunst? Eine existentielle Parabel auf die Relativität der Freiheit und die Vergeblichkeit jeder Entkommensbemühung? Eine Gattungsbezeichnung fehlt wohlweislich. Für einen Roman ist das Geschehen zu dünn, für eine Erzählung zu krude, für eine Novelle zu unbedeutend.
Lenz erzählt mit permanentem Augenzwinkern. Doch jede mögliche "Moral von der Geschicht" ist denkbar bieder, so wie auch Tonfall, Personal und Einfälle von altbackener Harmlosigkeit sind. Vor einem Jahr erschien die großartige, berührende Novelle "Schweigeminute", in der Lenz noch einmal seine ganze Meisterschaft zeigte. Was hat ihn bloß dazu gebracht, jetzt diesen verschmockten Text zu publizieren, der auch in den 50er-Jahren schon angestaubt und weltfremd gewirkt hätte?
Besprochen von Jörg Magenau
Siegfried Lenz: Landesbühne
Hoffmann und Campe, Hamburg 2009
120 Seiten, 17 Euro