Ausbruch in die freie Welt

In seinem neuen Roman "Flug der Pelikane" erzählt Benjamin Lebert die Geschichte des jungen Anton aus Hamburg, der den Sommer bei "Onkel Jimmy" in New York verbringt. Gemeinsam mit dem Imbissladen-Besitzer verliert er sich in wilden Legenden um die Ausbrecher aus dem Gefängnis Alcatraz in der Bucht von San Francisco.
Drei Männern gelang die Flucht aus dem seinerzeit wohl am besten gesicherten Gefängnis der Welt: Alcatraz, in der Bucht von San Francisco. Ob sie aber in der Bucht ertrunken oder einfach untergetaucht sind, wurde nie geklärt. Umso mehr Legenden ranken sich um die Flüchtlinge. Einer der Legenden-Erzähler ist Jimmy. Er führt in New York einen kleinen Imbissladen, und ein Gedanke lässt ihn nicht los: Die drei Alcatraz-Ausbrecher sind ihm angeblich vor Jahren vor die Linse seines Fotoapparats gekommen, als sie in einem Restaurant den Jahrestag ihrer Flucht feierten.

Das erzählt Jimmy auch Anton. Anton ist die Hauptfigur in Benjamin Leberts Roman, er verbringt einen Sommer bei "Onkel Jimmy", einer Affäre seiner Mutter. Anton ist gerade in Hamburg aus der Psychiatrie entlassen worden. Der Sommer in Manhattan ist für ihn der Ausbruch in die freie Welt, in den amerikanischen Traum vom Leben, in eine "Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär"-Szenerie mit skurrilen Typen. Anton findet Gefallen an Jimmys Geschichten. Die Verbindungen zwischen Alcatraz-Flüchtlingen, dem aus der Psychiatrie entlassenen Helden und dem fortwährenden Wunsch aller Protagonisten, sich aus ihrem faden Alltag wegzuträumen, sind offensichtlich.

"Flug der Pelikane" ist ein typischer Benjamin-Lebert-Roman. Der Autor erzählt lakonisch, anschaulich, liebenswürdig und voller Humor. Der heranwachsende Erzähler ähnelt offenbar dem Autor. Er ist ein sympathischer Träumer, nachdenklich und stets bereit, sich auf seltsame Geschichten einzulassen. Der Imbissladen steht für ein kleines vertrautes Terrain inmitten einer turbulenten Welt. Antons Freunde in diesem Schutzraum sind Begleiter für einen kurzen Lebensabschnitt – Jimmy führt ihn in die Welt der Erwachsenen und der Geschäfte zugleich ein.

Alltagsbeobachtungen lassen das Buch ausgesprochen lesenswert, stellenweise geradezu anrührend werden. Alle Figuren hängen ihren Träumen nach, und weil das eigene Leben zu wenig Traumhaftes bereithält, träumen sie andere Leben weiter: Die Ausbrecher aus einem Hochsicherheitsgefängnis sind eine hoch willkommene Projektionsfläche, denn sie haben nichts und riskieren alles. Dass diese Träumerei zu nichts führt, merkt Onkel Jimmy zu spät.

Der Leser von "Flug der Pelikane" kann den Helden in ihre Traumwelten folgen und darüber sein eigenes Leben für eine Weile vergessen. Mancher Vergleich mag platt oder gar trivial erscheinen, manche Alltagsweisheit ein bisschen weit hergeholt. Lebert aber führt in seinem erfrischend kurzen Roman vor, worauf es im Innersten ankommt: Menschliche Schicksale sind immer interessant. Er schafft es, seine Leser Mitgefühl entwickeln zu lassen für Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Die Romanfiguren glauben an Jimmys Geschichten, warum sollte es den Lesern anders gehen? Wenn man Lebert einen Vorwurf machen will, dann den, dass er es seinen Helden ein wenig zu leicht macht.

Der Titel hätte treffender nicht sein können: Pelikane sind nicht nur Teil der christlichen Ikonographie und auf fast allen Erdteilen vertreten, die ihnen verwandte Vogelart der Tölpel war auch Namensgeber für die legendäre Gefängnisinsel vor San Francisco: "Isla de los Alcatraces" bedeutet soviel wie "Tölpel-Insel".

Rezensiert von Roland Krüger

Benjamin Lebert: Flug der Pelikane
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
185 Seiten, 14,95 EUR