Literatur:
Christoph David Piorkowski: „Erzählen vom Unaussprechlichen. Über Leben und Werk von Primo Levi und Jean Améry“
Metropol Verlag, Berlin 2022
Primo Levi: "So war Auschwitz. Zeugnisse 1945–1986"
Übersetzt von Barbara Kleiner
Hanser Verlag, München 2017
Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Essays"
Szczesny Verlag, München 1966
Sascha Feuchert: "Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur"
Peter Lang Verlag, 2001
Primo Levi und Jean Améry
Primo Levi (1919-1987) schrieb unter anderem das Buch "Ist das ein Mensch?" über seine Erfahrungen im Konzentrationslager Auschwitz. © imago / Leemage
Erzählen vom Unaussprechlichen
Primo Levi und Jean Améry hatten viel gemeinsam: Vom Widerstand über die Lagererfahrung bis zum Versuch ihrer Bewältigung. Doch als Schriftsteller zogen sie aus Auschwitz unterschiedliche Schlüsse und gingen mit der Lesart des anderen ins Gericht.
„Für sie, für mich heißt Jude sein die Tragödie von gestern in sich lasten spüren. Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft.“
Jean Améry
Eins, Sieben, Zwei, Drei, Sechs, Vier. Die Nummer ist in Jean Amérys Grabstein gemeißelt, so wie sie in Hans Mayers Haut tätowiert war. Zehn Jahre nach der Befreiung von Auschwitz hat der zum Juden gemachte Österreicher den verhassten „Allerweltsnamen“ abgelegt. Fortan zeichnet er als Jean Améry, mit dem französisierten „Beinahe-Antonym“ des nicht mehr tragbaren Hans Mayer.
Dem Namen konnte er entrinnen – der Nummer, zu der man ihn gemacht hatte, nicht. Nicht dem, was sie bedeutete: als, wie er es nannte, „Katastrophenjude“ in die Welt gestellt zu sein. Auch nicht seinem Leib, in dem die Folter durch die Nazis als unsichtbare Wunde in ihm fortbrannte. Und der zum Sarkophag der Vergangenheit wurde, zum Speicher der Erinnerung an eine Zeit, da Menschen jede Menschlichkeit zerstört hatten.
Bis zu seinem Freitod im Jahr 1978 lebte Jean Améry in einer doppelten Heimatlosigkeit: in der deutschen Kultur, aus der die Deutschen ihn verbannt hatten, und in einer jüdischen Nicht-Identität, die er trotzig als sein Schicksal akzeptierte. In der für den Holocaust-Diskurs bahnbrechenden Essaysammlung „Jenseits von Schuld und Sühne“, die Mitte der 1960er-Jahre erscheint, ergründet der Philosoph und Shoah-Überlebende Jean Améry das Selbst- und Weltverhältnis jener Millionen, über die ihr Judesein wie eine Sturmflut hereinbrach. Die sich bis zu den Nürnberger Rassegesetzen selbst nicht als Juden definiert hatten.
Primo Levi
Auch der italienische Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Primo Levi fühlte sich zunächst vom faschistischen Italien und dann von den Deutschen zum Juden gemacht. Als Mussolini im Jahre 1938 die Rassegesetze der verbündeten Achsenmacht übernimmt, spürt Levi den Riss, der nun zwischen ihm und den christlichen Kommilitonen entsteht. Als Partisan wird er gefangengenommen – als Jude aber wird er nach Auschwitz deportiert.
Im Gegensatz zu seinem mutmaßlichen Barackengenossen Jean Améry kehrt Levi nach der Befreiung von Auschwitz in das Land und die Kultur seiner Kindheit zurück. Da Levi unter seinen christlichen Landsleuten zahlreiche Antifaschistinnen und Antifaschisten, unter den Nachbarn Mitmenschen findet, die ihm und den Seinen zu helfen bereit sind, kann er in Turin wieder Wurzeln schlagen.
Aus der Geschichte lernen?
Améry erlebt Österreicher und Deutsche als hassenden Block. Die eigene Vergangenheit, so fühlt es sich an, ist ihm für die Zukunft genommen. Levi kehrt als Jude und Italiener nach Italien zurück, Améry hingegen bleibt als ewiger Nicht-Österreicher und „Nicht-Nicht-Jude“ in Brüssel. Diese biografischen Differenzen der beiden großen Denker der Shoah haben dazu geführt, dass Primo Levi häufig als versöhnlicher Optimist und Jean Améry als Pessimist gilt, der stolz seine Ressentiments kultiviert.
Natürlich hatten beide viel gemeinsam: Vom Widerstand über die Lagererfahrung bis zum Versuch ihrer Bewältigung. Und doch haben die beiden Autoren aus Auschwitz verschiedene Schlüsse gezogen und gingen mit der Lesart des Anderen jeweils hart ins Gericht.
Wo dem promovierten Chemiker Primo Levi das Lager auch zur „Universität“ wird, in der er lernt, wie Menschen gleich chemischen Stoffen in bestimmten Lagen reagieren, meint der undogmatische Linksintellektuelle Jean Améry, aus Auschwitz sei überhaupt nichts zu lernen. Sein Weltvertrauen ist dauerhaft zerrüttet, er fühlt sich als „Toter auf Urlaub“. Levi hingegen findet Sinn in seinem Zeugnis, sieht seine Aufgabe darin zu erzählen, auf dass Auschwitz sich niemals wiederhole.
Die dehumanisierende Erfahrung der Shoah
Wie kann vom Unaussprechlichen erzählt werden? Der oft bemühte Topos der Hölle zum Beispiel verblasst gegenüber dem Gewesenen. Die dehumanisierende Erfahrung der Shoah ist in das menschliche Symbolsystem der Sprache kaum adäquat zu übersetzen.
Es klafft ein Abgrund zwischen dem Erlebten und seiner sprachlichen Darstellung. So sahen es viele Überlebende. Und doch haben zahlreiche Rückkehrer in immer neuen Anläufen berichtet.
Sascha Feuchert, Professor für Holocaustliteratur an der Universität Gießen, betrachtet die „Frage nach der Sagbarkeit von Auschwitz als hoch verständlich. Sie ist andererseits aber auch rhetorisch. (…) Verständlich ist an der Formulierung „Auschwitz ist sprachlich nicht denkbar oder nicht sagbar“, dass es natürlich einen großen Abstand gibt zwischen dem Erlittenen selbst und der sprachlichen Beschreibung.“
Erst in den 60er-Jahren werden Levi und Améry zu gefeierten Autoren, die sich über Auschwitz entzweien. Während der eine sich wiederfindet, bleibt der andere verloren. Auch von den vermeintlich Verbündeten, den Linken, ist Améry schmerzlich enttäuscht – weil er feststellt, dass struktureller Antisemitismus auch progressiven Geistern die Wahrnehmung trübt. 1978 setzt er seinem Leben mit Barbituraten ein Ende. Ein paar Jahre später stürzt Levi in den Treppenschacht des elterlichen Hauses in Turin. Ob er ebenfalls „Hand an sich legte“, wird kontrovers diskutiert.
Geteiltes Leid – getrennte Wege
Levi wurde seinem Heimatland entrissen, Améry aus seinem vertrieben. Wo jener selbstverständlich nach Italien zurückkehrt und am Kulturjudentum der piemontesischen Gemeinden andocken kann, ist dieser seinem Herkunftsland auf Dauer entfremdet – sein „Judesein“ indes bleibt eine Nicht-Identität.
Der humanistisch gebildete Bürgersohn Levi und der proletarisierte Autodidakt Hans Mayer alias Jean Améry leben in verschiedenen Welten. Primo Levi hat in Turin und Umgebung zwar Antisemitismus, doch auch Hilfe erfahren. Jean Améry war in Österreich und Deutschland einem dumpfen, kollektiven Hass ausgeliefert. Ihm bleibt nur sein „Katastrophenjudentum“, die Fremdzuschreibung, eine daraus resultierende Melancholie und seine Ressentiments.
Zuflucht in die Philosophie Sartres
Die Lektüre der Werke von Jean-Paul Sartre bot Jean Améry ein philosophisches Mittel, um seine eigene Lage zu begreifen. Sich auf seine Selbsteinschätzung zu berufen, wäre nutzlos angesichts des Urteils der Gesellschaft. Nicht nur in Deutschland, auch überall sonst wird er auf diese eine Weise betrachtet. Er resigniert vor dem fremden Verdikt, revoltiert aber gleichzeitig dagegen. Ihr wollt einen Juden, ihr sollt einen haben, dieser aber wird sich nicht kampflos ergeben. Jean Améry macht das Stigma seiner Feinde zum Anker seines eigenen Empowerments.
Sartres Freiheits- und Subjekt-Philosophie ist für Améry so bedeutsam, weil Freiheit notwendig Verantwortung bedeutet. Diese gilt immer für den Einzelnen, kann nicht an Umstände und Führerbefehle delegiert werden. Kein Eichmann dieser Welt bekommt die Absolution, wenn er meint, er habe nur getan, wie ihm geheißen war.
Hier liegt auch der Kern von Amérys Verachtung für alle philosophischen Systeme, die das Subjekt zum Epiphänomen quasiautonomer Strukturen erklären. So werden Foucault und der Strukturalismus in Amérys Schriften wiederholt kritisiert. Denn wenn alles Agieren aus Strukturen resultiert, kann man auch niemanden verantwortlich machen.
Die letzten Zeitzeugen werden bald verstummen, der Holocaust droht in Geschichte zu erstarren. Heute, da die Singularität der Shoah aus verschiedenen politischen Lagern bezweifelt wird, kommt den Zeugnissen die Aufgabe zu, zumindest eine Ahnung davon zu vermitteln, was Auschwitz wirklich bedeutet hat.
Dies ist eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2022.
Redaktioneller Hinweis: Wir haben aus redaktionellen Gründen einen Link entfernt.