Auschwitz-Prozess

Die Schuld der Mittäter und Mitläufer

Oskar Gröning vor dem Lüneburger Landgericht (1. Juli 2015)
Oskar Gröning vor dem Lüneburger Landgericht © dpa / picture-alliance / Ronny Hartmann
Von Catherine Newmark |
Der Auschwitz-Prozess von Lüneburg kam viel zu spät. Und doch stellten sich die Deutschen damit erstmals ihrer "Hypothek" – der zahllosen ungesühnten Verbrechen der NS-Zeit, kommentiert Catherine Newmark das Urteil gegen den 94-jährigen Oskar Gröning.
Schwer zu glauben: Erst diese Woche, 70 Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors, wurde zum ersten Mal ein deutscher Staatsbürger in Deutschland als bloßer Mittäter am systematischen Massenmord des Holocausts verurteilt. Denn in der Nachkriegszeit und bis in die jüngste Vergangenheit galt vor Gericht: Schuldig gesprochen wurde nur, wer als Befehlshaber verantwortlich war, oder wem individuelles Töten nachgewiesen werden konnte, wie etwa den besonders grausamen sogenannten "Exzesstätern".
Erst in allerjüngster Zeit setzt sich auch rechtlich durch, was offensichtlich ist: In Vernichtungslagern wurde nicht eine Summe von Einzelmorden begangen, vielmehr setzt die industrielle Tötung von Menschen Arbeitsteilung voraus. Und genau darum verurteilte das Gericht in Lüneburg Oskar Gröning: Er ist der Beihilfe zum Mord schuldig, nicht weil er eigenhändig getötet hätte, sondern weil er eine Funktion hatte in einem Apparat, der zu nichts anderem als zum Töten da war.
Er empfinde eine "moralische Mitschuld", sagte Gröning
Der betagte Oskar Gröning hat im Prozessverlauf bemerkenswert offen von seiner Tätigkeit in der Mordmaschine berichtet. Eine juristische Schuld hat er hingegen stets von sich gewiesen: Er habe Anweisungen befolgt, er habe nicht direkt getötet. Zugegeben hat er in den letzten Wochen freilich, dass er eine "moralische Mitschuld" empfinde.
Schon 1946 hat Karl Jaspers in seinem Buch "Die Schuldfrage" eindringlich die Frage nach juristischer und moralischer Schuld gestellt. Sehr viel klarer als spätere Gerichte formulierte er juristische Schuld: Ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen, auch wenn es befohlen wurde. Aber ebenso wichtig wie die Verurteilung der Täter war für Jaspers die Auseinandersetzung mit der moralischen Schuld. Sie trifft alle Mittäter, aber auch die Mitläufer und selbst diejenigen, die sich vom Regime innerlich distanzierten, aber schwiegen – mithin fast alle Deutschen. Jaspers war überzeugt, dass sich das deutsche Volk als Gemeinschaft dieser moralischen Schuld stellen müsse. In den Nachkriegsjahren geschah das nur sehr unvollständig, und Jaspers sah darin eine schwere Hypothek für den Wiederaufbau der deutschen Gesellschaft.
Eine "untilgbare Schuld" lastet hinfort auf Deutschland
Dass das Urteil gegen Gröning erst jetzt, viel zu spät, gefallen ist, gehört zu dieser Hypothek. Man kann es zynisch finden, dass der Prozess erst jetzt durchgeführt wurde, wo es für eine mehr als symbolische Verurteilung eines sehr alten Mannes zu spät ist.
Aber vielleicht geht es auch vor allem ums Symbolische. Bei Jaspers gibt es eine weitere Kategorie der Schuld, sie heißt "metaphysische Schuld". Das ist die "untilgbare Schuld", die auf Deutschland hinfort lastet, und der sich jeder Deutsche wohl oder übel zu beugen hat. Vielleicht ist das allzu späte Nachholen von Versäumnissen in der Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte nicht zynisch, sondern umgekehrt ein Versuch, sich als Gesellschaft genau dieser metaphysischen Schuld zu stellen. Nämlich der Einsicht, dass wir Auschwitz nie hinter uns lassen werden können. Und dass es selbst jetzt, wo die Täter in Altersheimen leben, und auch dann, wenn sie alle tot sein werden, für die Gesellschaft wichtig bleiben wird, ihre Taten glasklar als juristische und als moralische Verbrechen zu benennen. Die "innere Erneuerung", die Jaspers schon 1946 von seinem Land gefordert hat: Sie ist ein unabschließbarer Prozess.
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