Erinnerungen eines KZ-Buchhalters
Am ersten Tag des Prozesses gegen Oskar Gröning berichtet der 93-Jährige, wie er als Freiwilliger der Waffen-SS in die Todesfabrik von Auschwitz geriet. Erst am Ende seiner Ausführungen bemerkt er beiläufig, moralisch mitschuldig zu sein.
Gestützt erst auf seinen Rollator, dann auf seinen Strafverteidiger kommt Oskar Gröning herein. Ein Greis von 93 Jahren, schlohweißes Haar, Brille, Strickjacke. 60 Journalisten aus aller Welt drängen sich in der Ritterakademie, das Gericht hat sie als Verhandlungsort angemietet.
Dolmetscher übersetzen ins Englische, ins Ungarische, ins Hebräische. Hinter der Phalanx ihrer Anwälte sitzen zum Prozessauftakt einige der über 70 Nebenkläger. Viele aber sind zu gebrechlich, zu krank, um die Reise in die Salzstadt auf sich zu nehmen, um die bislang 27 angesetzten Verhandlungstage durchzustehen.
Buchführung über geraubte Wertsachen
Vordringlich legt die Staatsanwaltschaft Hannover dem Angeklagten zur Last, bei der sogenannten "Ungarn-Aktion" im Sommer 1944 wissentlich bei der Ermordung von mindestens 300.000 Menschen, meist ungarischen Juden, geholfen zu haben. Bei ihrer Ankunft in Eisenbahnzügen mussten die Todgeweihten ihr Gepäck auf der Rampe zurücklassen. Gröning bewachte es, im Dienst der sogenannten Häftlingsgeldverwaltung, führte Buch über die für die Berliner Zentrale geraubten Wertsachen und Devisen.
Beihilfe aus Sicht der Anklage, nicht zuletzt weil Gröning dem NS-Regime Einnahmen verschaffte und somit zum reibungslosen Ablauf der Tötungsmaschinerie beitrug.
In seiner Einlassung schildert der Angeklagte, wie es ihn als Freiwilligen der Waffen-SS in die Kommandantur der Todesfabrik verschlagen habe. Abkommandiert durch Vorgesetzte, vermutlich wegen seiner Ausbildung zum Bankkaufmann. Gleich nach seiner Ankunft dort, sei er, der Ahnungslose, von Kameraden über den Massenmord ins Bild gesetzt worden.
Rückfall in den SS-Jargon
In der Befragung durch den Vorsitzenden fällt der Angeklagte immer wieder in den Jargon der SS-Sturmmänner, spricht von "Entsorgung", wo gemordet wurde. Vor Gericht berichtet Gröning von Gräueltaten, die ihm angeblich die Augen öffneten: So habe er mit angesehen, wie ein Säugling im Gepäckstapel entdeckt und von einem Kameraden totgeschlagen wurde. Auch den qualvollen Tod der Menschen in den Gaskammern sah er mit an. Vehement habe er auf seine Versetzung zur kämpfenden Truppe gedrungen, führt Gröning aus. Das letzte Ersuchen habe schließlich im Oktober 1944 Erfolg gehabt.
Eine direkte Mitwirkung an den Mordtaten sei ihm so erspart geblieben, betont Gröning. Erst ganz am Ende seiner Ausführungen bemerkt er wie beiläufig, moralisch mitschuldig zu sein. Die strafrechtliche Bewertung seiner Handlungen wolle er anderen überlassen.
50 Auschwitz-Überlebende vertreten die Rechtsanwälte Thomas Walter und Cornelius Nestler als Nebenkläger. Nestler sagt, das Verfahren wird grundsätzlich um die Frage kreisen:
"Ob man in Auschwitz mitmachen konnte, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Das ist das, was Herr Gröning ja sagt. Und in vielerlei Hinsicht gebührt ihm auch Respekt. Er ist eben einer von denen, die ihre Anwesenheit in Auschwitz zugegeben haben."
Juristische Neubewertung
Ein erstes Ermittlungsverfahren gegen Gröning hatte die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main 1985 eingestellt. Verfahren wie das gerade in Lüneburg angelaufene wurden erst möglich weil die Justizbehörden seit dem Urteil gegen den ehemaligen KZ-Wachmann John Demjanjuk von 2011 nicht mehr auf dem Nachweis einer direkten Beteiligung an den Mordtaten bestehen. Rechtskräftig wurde das Urteil nie, weil Demjanjuk noch im laufenden Revisionsverfahren verstarb. Eine juristische Neubewertung gab es dennoch, sagt Gerichtssprecherin Frauke Albers:
"Diese Rechtsprechung oder dieses erste Urteil des Landgerichts München hat die Anklagebehörden veranlasst, Verfahren erneut aufzunehmen – und bei bestehender Verhandlungsfähigkeit dann anzuklagen."
Hedy Bohm ist aus Kanada angereist. Die alte Dame schüttelt den Kopf über die Ausflüchte des Angeklagten. Auch ihre Erinnerung an ihr wundersames Überleben in Auschwitz ist noch sehr präsent:
"Wie sie die Waffen auf uns richten, die geifernden Hunde, die schreienden Säuglinge, der Nazi-Soldat, der mich davon abhält, mit meiner Mutter zu gehen. Wer heute Verbrechen verübt, muss wissen, es gibt Gesetze, er wird sich eines Tages rechtfertigen müssen – und niemals wieder darf sich einer darauf berufen: 'Ich bin nur ein Rädchen im Getriebe gewesen'."