"Ausgeschnitzelt herausragender Charakter"
Ihre Verehrung für den großen Iren hat viele Gründe. Vor allem der Roman "Watt" begeistert die Stuttgarter Autorin Sibylle Lewitscharoff als grandiose Versuchsanordnung über Gott und die Welt - noch dazu sei er "irrsinnig komisch im Detail".
Katrin Heise: Die erste Schriftstellerin, die uns ein Werk vorstellt, welches Europäer unbedingt kennen sollten, ist Sibylle Lewitscharoff. Sie hat sich einen Namen gemacht mit den Romanen "Der höfliche Harald", "Montgomery" und "Consummatus". Sie ist Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin, im vergangenen Jahr wurde sie ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse. In ihrem letzten Roman "Apostoloff" reisen zwei Schwestern durch das Heimatland von Lewitscharoffs Vater, durch Bulgarien. Frau Lewitscharoff, ich grüße Sie, schön, dass Sie unser Gast sind!
Sibylle Lewitscharoff: Grüß Gott!
Heise: Das Werk oder das Buch, welches Sie mitgebracht haben, ist von Samuel Beckett, sicher dem wichtigsten oder einem der wichtigsten Vertreter des absurden Theaters. Die meisten kennen von Beckett wahrscheinlich sein Stück "Warten auf Godot", aber das ist es nicht, was Sie mitgebracht haben. Sie haben ein früheres Werk ausgesucht, "Watt". Was passiert in diesem Roman "Watt"?
Lewitscharoff: Nun, das ist eines seiner bedeutenden Prosawerke, würde ich sagen. Und wie der Name Watt (Anm. d. Red. wie engl. what gesprochen) - W-a-t-t geschrieben aber gesprochen - schon anklingen lässt, ist es die große Frage: Was? Und dieses Was, Was, Was, das kommt in diesem Roman sehr häufig vor, und diese Frage wird indirekt gestellt an einen geheimnisvollen Herrscher, einen Mr. Knot, K-n-o-t-t geschrieben, aber "Nott" gesprochen, der das große Nichts verkörpert.
Heise: Also, "Was" und "Nichts" stehen sich da gegenüber?
Lewitscharoff: Genau … stehen sich gegenüber in diesem Roman, aber es ist natürlich mehr Fleisch an der Suppe. Das heißt, diese Clochard… eine der typischen Clochardfiguren ist Watt auf der einen Seite, aber es sind von überall her Jesusingredienzien herangetragen. Watt stößt sich in einem Dornengebüsch das Haupt blutig und blutet jesusartig, Watt sinkt in einer Nachkreuzigungspose bei einer Fischfrau auf dem Schoß zusammen, und Watt begegnet bei einer seiner Bahnfahrten einem Mr. Spiro, der eine Krux, eine katholische Monatszeitschrift dabei hat. Und drei Frösche quaken nicht wie der berühmte krähende Hahn, sondern die quaken Krik, Krek, und Krak. Also es ist eine große, man kann sagen religiös verkuhwedelte Form der Frage nach Gott.
Heise: Ist es das, was für Sie "Watt" so unverzichtbar macht in diesem europäischen Kanon, den wir erstellen?
Lewitscharoff: Na ja, ich finde es eine dolle Versuchsanordnung, sagen wir so. Es ist natürlich ein Prosastück, das nicht für sehr, sehr viele Leser taugt. Insofern ist es vielleicht etwas problematisch in einem Kanon, aber es ist eine grandiose Versuchsanordnung, in einem Roman die Frage vorzutragen, wer ist Gott, und das auf eine hintergründig philosophische Art zu tun und zugleich das Ganze aber in einem Haus unter Herrschaftsverhältnissen von Knecht und Herren spielen zu lassen.
Heise: Wir hören jetzt am besten einmal einen Ausschnitt aus dem Roman "Watt" von Samuel Beckett:
"Samstag abends wurde eine Menge Nahrung zubereitet und gekocht, die genügte, um Mr. Knott eine Woche lang durchzubringen. Dieses Gericht enthielt Nahrungsmittel verschiedener Art.
Watt fiel die Aufgabe zu, die Zutaten, aus denen sich dieses Gericht zusammensetzte, mit äußerster Genauigkeit zu wiegen, zu messen und zu zählen, und jene, die einer Zubereitung bedurften, für den Topf zuzubereiten und sie ohne Einbuße innig miteinander zu vermischen, sodass nichts mehr voneinander zu unterscheiden war, und sie zum Kochen zu bringen, und wenn sie kochten, sie am Kochen zu halten, und wenn sie gekocht waren, ihr Kochen zu unterbrechen und sie hinauszustellen ins Kühle, an einen kühlen Platz. Diese Aufgabe beanspruchte Watts Kräfte, die seines Geistes und die seines Körpers, auf das Äußerste, so heikel und so schwer war sie. Und bei warmem Wetter geschah es bisweilen, während er mischte, bis zu den Hüften entblößt und mit beiden Händen die große Eisenstange handhabte, dass Tränen hinabfielen – Tränen geistiger Erschöpfung, von seinem Gesicht in den Topf, und von seiner Brust und aus seinen Achselhöhlen durch seine Anstrengungen hervorgerufene dicke Schweißperlen, ebenfalls in den Topf. Auch seine seelischen Reserven wurden auf eine harte Probe gestellt, so groß war sein Verantwortungsbewusstsein."
Heise Ein Ausschnitt war das aus dem Roman von Samuel Beckett, "Watt". Es geht, Frau Lewitscharoff, immer wieder um Essen, Nahrung, Zubereitung – in diesem Ausschnitt, aber auch im ganzen Buch, immer wieder geht es darum. Es geht auch um Essen, das man isst und dann wieder auskotzt. Wofür steht das?
Lewitscharoff: Na ja, auf der einen Seite ist es natürlich sagen wir mal der überpräzisen Handhabung im gesamten Roman geschuldet, dass es so weitschweifig erzählt ist – also jede Handlung wird ja mit großer zwanghafter Akribie behandelt, so eben auch das Essen. Aber dieses Essen ist schon eine Sonderveranstaltung, weil daran sich noch eine ganz andere Geschichte knüpft, nämlich die der Familie Lynch beziehungsweise des Hundes, der jeweils von dieser monströsen Familie bereitgestellt werden muss, um die Reste aus dem Topf zu lecken und zu fressen. Und das ist auch wieder sozusagen mehr oder weniger in der Mitte des Romans eine Art monströse Aufblähung und Schrumpfung, also eine riesige Familie, die sich das Ziel gesetzt hat, insgesamt in einer Familienwelt 1000 Jahre an Jahren zusammenzubringen. Die kommt an diese 1000-jährige Geschichte nicht ganz ran und schrumpft, kaum, kaum in der Nähe gelangt zu diesem magischen Tal wieder zurück und ihre Mitglieder sterben wie die Fliegen. Also das hat in der Mitte sozusagen eine Art pyramidalen Aufbau, eine umgekehrte Pyramide ist es im Grunde, also von Menschenansammlungen, und alles um diesen Napf für Knott und die Resteverwertung konstruiert. Dies ist eine dieser Geschichten, die eigentlich auch mit so etwas zu tun haben wie mit einem: Was ist wirklich die Schöpfung? Ja, woraus besteht sie, wie bläht sie sich auf, wie schrumpft sie zusammen, wovon wird sie erhalten? Also diese hintergründigen Fragen spielen selbst bei so einem ordinären Gegenstand wie Knotts Napf eine Rolle.
Heise: Deutschlandradio Kultur hören Sie, die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff erklärt uns in unserer Reihe "Europäischer Literaturkanon", warum sie Samuel Becketts Roman "Watt" für wichtig hält. Frau Lewitscharoff, ich gebe zu, dass ich manchmal ein bisschen Schwierigkeiten hatte, den Text zu lesen, Sie haben auch gesagt, dass er sperrig ist, dass er kompliziert ist, diese ständigen Wiederholungen, die Sprunghaftigkeit, aber manchmal habe ich dann auch festgestellt, gerade bei diesen Wiederholungen, wo manchmal Worte oder Satzabschnitte also wirklich seitenweise quasi wiederholt werden, dass man da reingezogen wird wie in so eine Meditation. Wie ging es Ihnen beim Lesen, wann haben Sie den Roman das erste Mal gelesen?
Lewitscharoff: Ich hab’ ihn mit Anfang 20 zum ersten Mal gelesen und konnte damals nichts mit anfangen. Hab’ ihn dann später mit großer Begeisterung gelesen, also da war ich aber schon Mitte 30 ungefähr. Und manches ist irrsinnig komisch im Detail, und zwar zum Beispiel, da gibt es eine komische Prüfungskommission – das sind also lauter Männer, die da an einem Tisch sitzen, um sich zu unterhalten, und da werden die Blickrichtungen analysiert, wer wen anschauen beziehungsweise nicht anschauen kann und was er denn sieht, wenn Leute wie Hühnchen auf der Stange nebeneinandersitzen. Das ist von einer so schwindelerregenden und auch richtigen Komik. Das ist also mit Akribie sehr genau gesehen. Also sind viele Sachen, wo auch, sagen wir mal, der jetzt nicht philosophisch erbauliche Leser doch auf seine Kosten kommen kann – also wenn er für diese Art von Humor Sinn hat.
Heise: Samuel Beckett ist ja unbestritten einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, einer der Vertreter des absurden Theaters. Wie kam Beckett eigentlich zum absurden Theater, zu dieser Richtung des Schreibens?
Lewitscharoff: Das ist schwer zu beantworten. Es hat natürlich zu tun mit seiner Erfahrung in Frankreich. Dieser Roman ist übrigens auch während der letzten Kriegsjahre entstanden, und zwar auf der Flucht auch, in Roussillon. Und viele seiner Werke nähren sich davon, dass er mit seiner Frau, übrigens auch eine ellenlange Latte wie er selbst, dass die also zu zweit staubige Landstraßen entlanggewandert sind, und man kann Gift drauf nehmen, dass die Frau auch begabt darin war, absurde Dialoge mit ihrem Mann oder ihrem späteren Mann zu führen. Also da, das war ein ziemliches Duo!
Heise: Das, was dann später aufgeschrieben wurde.
Lewitscharoff: Ja, also "Mercier und Camier" handelt ganz stark davon, das nährt sich daraus, aber auch "Watt" ein wenig, ja? Und ich glaube, dass Beckett, der ja ein untadelhaftes Résistanceleben auf der einen Seite politisch führte, aber so etwa seine Literatur nicht von der Gewalt dieser Sache an der Oberfläche durchherrschen lassen wollte. Allenfalls indirekt. Indirekt schon. Es gibt Platzverweise, es gibt in dem Werk schon Stellen, wo man genau weiß, da hat sich das und das in Paris auch abgespielt. Also ganz so ist es nicht, dass nicht Hinweise gegeben sind, aber er wollte das Werk von den wirklich entsetzlichen Verwerfungen, die er sehr genau mitbekommen hat, freihalten.
Heise: Sie haben gesagt, es ist vor allem die Gottessuche, auf die Sie immer wieder gestoßen sind in dem Text, in Becketts Stücken und Texten geht es aber auch immer wieder um Sinn und Aussichtslosigkeit, Lethargie, Resignation. Und wenn man jetzt im Hinterkopf hat, in welcher Situation er das geschrieben hat, finden Sie das auch wieder in dem Text?
Lewitscharoff: Ja, sehr wohl. Ich meine, alle, die den Zweiten Weltkrieg und die Gräuel miterlebt haben und dafür wache Antennen auch noch hatten, was wirklich passiert, ja, die hatte er ja nun, die konnten sich eigentlich also einer Weltuntergangsfrage und wie es geschehen konnte, dass solche Gräuel mitten im Leben passieren können, dass so viele Menschen auf die schrecklichste Weise ausgelöscht werden, also der Frage konnte man sich in der Zeit schwer entziehen. Besonders nicht, wenn man dann überhaupt ein Händchen dafür hatte, so zu fragen, und die hatte er. Er war philosophisch sehr gebildet, und er hat in allen Schriften permanent die anglikanische Bibel in Versatzstücken zitiert. Die war ihm offenbar sehr, sehr präsent im Kopf.
Heise: Und auch sehr wichtig.
Lewitscharoff: Sehr wichtig, und er hat also richtig teilweise die ganzen Psalmen auseinandergenommen und hat sie in Teilen irgendwie rezitierend praktisch in seinen Werken untergebracht.
Heise: Hat Samuel Beckett Sie beeinflusst als Schriftsteller?
Lewitscharoff: Sehr. Also ich kann nicht sagen, wie genau, aber doch sehr. Mich hat … Es ist für mich der einzige Schriftsteller weit und breit, den ich kenne, den ich als Person durch und durch verehre. Ich halte ihn für einen ausgeschnitzelt herausragenden Charakter, was man von den meisten Schriftstellern nicht sagen kann.
Heise: Vielen Dank! Sibylle Lewitscharoff über Samuel Beckett. In unserer Reihe "Europäischer Kanon" hält sie seinen Roman "Watt" für … ja, doch unverzichtbar. "Watt" von Samuel Beckett ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, der letzte Roman von Sibylle Lewitscharoff "Apostoloff" ist ebenfalls im Suhrkamp-Verlag erschienen. Frau Lewitscharoff, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Lewitscharoff: Danke Ihnen!
Heise: Das nächste Gespräch im "Europäischen Kanon" ist übrigens am Mittwochnachmittag kurz nach zwei zu hören, da stellt uns der englische Journalist und Autor Roger Boyes den Roman "Ein folgenschwerer Abend" von Ismail Kadare vor.
Sibylle Lewitscharoff: Grüß Gott!
Heise: Das Werk oder das Buch, welches Sie mitgebracht haben, ist von Samuel Beckett, sicher dem wichtigsten oder einem der wichtigsten Vertreter des absurden Theaters. Die meisten kennen von Beckett wahrscheinlich sein Stück "Warten auf Godot", aber das ist es nicht, was Sie mitgebracht haben. Sie haben ein früheres Werk ausgesucht, "Watt". Was passiert in diesem Roman "Watt"?
Lewitscharoff: Nun, das ist eines seiner bedeutenden Prosawerke, würde ich sagen. Und wie der Name Watt (Anm. d. Red. wie engl. what gesprochen) - W-a-t-t geschrieben aber gesprochen - schon anklingen lässt, ist es die große Frage: Was? Und dieses Was, Was, Was, das kommt in diesem Roman sehr häufig vor, und diese Frage wird indirekt gestellt an einen geheimnisvollen Herrscher, einen Mr. Knot, K-n-o-t-t geschrieben, aber "Nott" gesprochen, der das große Nichts verkörpert.
Heise: Also, "Was" und "Nichts" stehen sich da gegenüber?
Lewitscharoff: Genau … stehen sich gegenüber in diesem Roman, aber es ist natürlich mehr Fleisch an der Suppe. Das heißt, diese Clochard… eine der typischen Clochardfiguren ist Watt auf der einen Seite, aber es sind von überall her Jesusingredienzien herangetragen. Watt stößt sich in einem Dornengebüsch das Haupt blutig und blutet jesusartig, Watt sinkt in einer Nachkreuzigungspose bei einer Fischfrau auf dem Schoß zusammen, und Watt begegnet bei einer seiner Bahnfahrten einem Mr. Spiro, der eine Krux, eine katholische Monatszeitschrift dabei hat. Und drei Frösche quaken nicht wie der berühmte krähende Hahn, sondern die quaken Krik, Krek, und Krak. Also es ist eine große, man kann sagen religiös verkuhwedelte Form der Frage nach Gott.
Heise: Ist es das, was für Sie "Watt" so unverzichtbar macht in diesem europäischen Kanon, den wir erstellen?
Lewitscharoff: Na ja, ich finde es eine dolle Versuchsanordnung, sagen wir so. Es ist natürlich ein Prosastück, das nicht für sehr, sehr viele Leser taugt. Insofern ist es vielleicht etwas problematisch in einem Kanon, aber es ist eine grandiose Versuchsanordnung, in einem Roman die Frage vorzutragen, wer ist Gott, und das auf eine hintergründig philosophische Art zu tun und zugleich das Ganze aber in einem Haus unter Herrschaftsverhältnissen von Knecht und Herren spielen zu lassen.
Heise: Wir hören jetzt am besten einmal einen Ausschnitt aus dem Roman "Watt" von Samuel Beckett:
"Samstag abends wurde eine Menge Nahrung zubereitet und gekocht, die genügte, um Mr. Knott eine Woche lang durchzubringen. Dieses Gericht enthielt Nahrungsmittel verschiedener Art.
Watt fiel die Aufgabe zu, die Zutaten, aus denen sich dieses Gericht zusammensetzte, mit äußerster Genauigkeit zu wiegen, zu messen und zu zählen, und jene, die einer Zubereitung bedurften, für den Topf zuzubereiten und sie ohne Einbuße innig miteinander zu vermischen, sodass nichts mehr voneinander zu unterscheiden war, und sie zum Kochen zu bringen, und wenn sie kochten, sie am Kochen zu halten, und wenn sie gekocht waren, ihr Kochen zu unterbrechen und sie hinauszustellen ins Kühle, an einen kühlen Platz. Diese Aufgabe beanspruchte Watts Kräfte, die seines Geistes und die seines Körpers, auf das Äußerste, so heikel und so schwer war sie. Und bei warmem Wetter geschah es bisweilen, während er mischte, bis zu den Hüften entblößt und mit beiden Händen die große Eisenstange handhabte, dass Tränen hinabfielen – Tränen geistiger Erschöpfung, von seinem Gesicht in den Topf, und von seiner Brust und aus seinen Achselhöhlen durch seine Anstrengungen hervorgerufene dicke Schweißperlen, ebenfalls in den Topf. Auch seine seelischen Reserven wurden auf eine harte Probe gestellt, so groß war sein Verantwortungsbewusstsein."
Heise Ein Ausschnitt war das aus dem Roman von Samuel Beckett, "Watt". Es geht, Frau Lewitscharoff, immer wieder um Essen, Nahrung, Zubereitung – in diesem Ausschnitt, aber auch im ganzen Buch, immer wieder geht es darum. Es geht auch um Essen, das man isst und dann wieder auskotzt. Wofür steht das?
Lewitscharoff: Na ja, auf der einen Seite ist es natürlich sagen wir mal der überpräzisen Handhabung im gesamten Roman geschuldet, dass es so weitschweifig erzählt ist – also jede Handlung wird ja mit großer zwanghafter Akribie behandelt, so eben auch das Essen. Aber dieses Essen ist schon eine Sonderveranstaltung, weil daran sich noch eine ganz andere Geschichte knüpft, nämlich die der Familie Lynch beziehungsweise des Hundes, der jeweils von dieser monströsen Familie bereitgestellt werden muss, um die Reste aus dem Topf zu lecken und zu fressen. Und das ist auch wieder sozusagen mehr oder weniger in der Mitte des Romans eine Art monströse Aufblähung und Schrumpfung, also eine riesige Familie, die sich das Ziel gesetzt hat, insgesamt in einer Familienwelt 1000 Jahre an Jahren zusammenzubringen. Die kommt an diese 1000-jährige Geschichte nicht ganz ran und schrumpft, kaum, kaum in der Nähe gelangt zu diesem magischen Tal wieder zurück und ihre Mitglieder sterben wie die Fliegen. Also das hat in der Mitte sozusagen eine Art pyramidalen Aufbau, eine umgekehrte Pyramide ist es im Grunde, also von Menschenansammlungen, und alles um diesen Napf für Knott und die Resteverwertung konstruiert. Dies ist eine dieser Geschichten, die eigentlich auch mit so etwas zu tun haben wie mit einem: Was ist wirklich die Schöpfung? Ja, woraus besteht sie, wie bläht sie sich auf, wie schrumpft sie zusammen, wovon wird sie erhalten? Also diese hintergründigen Fragen spielen selbst bei so einem ordinären Gegenstand wie Knotts Napf eine Rolle.
Heise: Deutschlandradio Kultur hören Sie, die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff erklärt uns in unserer Reihe "Europäischer Literaturkanon", warum sie Samuel Becketts Roman "Watt" für wichtig hält. Frau Lewitscharoff, ich gebe zu, dass ich manchmal ein bisschen Schwierigkeiten hatte, den Text zu lesen, Sie haben auch gesagt, dass er sperrig ist, dass er kompliziert ist, diese ständigen Wiederholungen, die Sprunghaftigkeit, aber manchmal habe ich dann auch festgestellt, gerade bei diesen Wiederholungen, wo manchmal Worte oder Satzabschnitte also wirklich seitenweise quasi wiederholt werden, dass man da reingezogen wird wie in so eine Meditation. Wie ging es Ihnen beim Lesen, wann haben Sie den Roman das erste Mal gelesen?
Lewitscharoff: Ich hab’ ihn mit Anfang 20 zum ersten Mal gelesen und konnte damals nichts mit anfangen. Hab’ ihn dann später mit großer Begeisterung gelesen, also da war ich aber schon Mitte 30 ungefähr. Und manches ist irrsinnig komisch im Detail, und zwar zum Beispiel, da gibt es eine komische Prüfungskommission – das sind also lauter Männer, die da an einem Tisch sitzen, um sich zu unterhalten, und da werden die Blickrichtungen analysiert, wer wen anschauen beziehungsweise nicht anschauen kann und was er denn sieht, wenn Leute wie Hühnchen auf der Stange nebeneinandersitzen. Das ist von einer so schwindelerregenden und auch richtigen Komik. Das ist also mit Akribie sehr genau gesehen. Also sind viele Sachen, wo auch, sagen wir mal, der jetzt nicht philosophisch erbauliche Leser doch auf seine Kosten kommen kann – also wenn er für diese Art von Humor Sinn hat.
Heise: Samuel Beckett ist ja unbestritten einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, einer der Vertreter des absurden Theaters. Wie kam Beckett eigentlich zum absurden Theater, zu dieser Richtung des Schreibens?
Lewitscharoff: Das ist schwer zu beantworten. Es hat natürlich zu tun mit seiner Erfahrung in Frankreich. Dieser Roman ist übrigens auch während der letzten Kriegsjahre entstanden, und zwar auf der Flucht auch, in Roussillon. Und viele seiner Werke nähren sich davon, dass er mit seiner Frau, übrigens auch eine ellenlange Latte wie er selbst, dass die also zu zweit staubige Landstraßen entlanggewandert sind, und man kann Gift drauf nehmen, dass die Frau auch begabt darin war, absurde Dialoge mit ihrem Mann oder ihrem späteren Mann zu führen. Also da, das war ein ziemliches Duo!
Heise: Das, was dann später aufgeschrieben wurde.
Lewitscharoff: Ja, also "Mercier und Camier" handelt ganz stark davon, das nährt sich daraus, aber auch "Watt" ein wenig, ja? Und ich glaube, dass Beckett, der ja ein untadelhaftes Résistanceleben auf der einen Seite politisch führte, aber so etwa seine Literatur nicht von der Gewalt dieser Sache an der Oberfläche durchherrschen lassen wollte. Allenfalls indirekt. Indirekt schon. Es gibt Platzverweise, es gibt in dem Werk schon Stellen, wo man genau weiß, da hat sich das und das in Paris auch abgespielt. Also ganz so ist es nicht, dass nicht Hinweise gegeben sind, aber er wollte das Werk von den wirklich entsetzlichen Verwerfungen, die er sehr genau mitbekommen hat, freihalten.
Heise: Sie haben gesagt, es ist vor allem die Gottessuche, auf die Sie immer wieder gestoßen sind in dem Text, in Becketts Stücken und Texten geht es aber auch immer wieder um Sinn und Aussichtslosigkeit, Lethargie, Resignation. Und wenn man jetzt im Hinterkopf hat, in welcher Situation er das geschrieben hat, finden Sie das auch wieder in dem Text?
Lewitscharoff: Ja, sehr wohl. Ich meine, alle, die den Zweiten Weltkrieg und die Gräuel miterlebt haben und dafür wache Antennen auch noch hatten, was wirklich passiert, ja, die hatte er ja nun, die konnten sich eigentlich also einer Weltuntergangsfrage und wie es geschehen konnte, dass solche Gräuel mitten im Leben passieren können, dass so viele Menschen auf die schrecklichste Weise ausgelöscht werden, also der Frage konnte man sich in der Zeit schwer entziehen. Besonders nicht, wenn man dann überhaupt ein Händchen dafür hatte, so zu fragen, und die hatte er. Er war philosophisch sehr gebildet, und er hat in allen Schriften permanent die anglikanische Bibel in Versatzstücken zitiert. Die war ihm offenbar sehr, sehr präsent im Kopf.
Heise: Und auch sehr wichtig.
Lewitscharoff: Sehr wichtig, und er hat also richtig teilweise die ganzen Psalmen auseinandergenommen und hat sie in Teilen irgendwie rezitierend praktisch in seinen Werken untergebracht.
Heise: Hat Samuel Beckett Sie beeinflusst als Schriftsteller?
Lewitscharoff: Sehr. Also ich kann nicht sagen, wie genau, aber doch sehr. Mich hat … Es ist für mich der einzige Schriftsteller weit und breit, den ich kenne, den ich als Person durch und durch verehre. Ich halte ihn für einen ausgeschnitzelt herausragenden Charakter, was man von den meisten Schriftstellern nicht sagen kann.
Heise: Vielen Dank! Sibylle Lewitscharoff über Samuel Beckett. In unserer Reihe "Europäischer Kanon" hält sie seinen Roman "Watt" für … ja, doch unverzichtbar. "Watt" von Samuel Beckett ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, der letzte Roman von Sibylle Lewitscharoff "Apostoloff" ist ebenfalls im Suhrkamp-Verlag erschienen. Frau Lewitscharoff, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Lewitscharoff: Danke Ihnen!
Heise: Das nächste Gespräch im "Europäischen Kanon" ist übrigens am Mittwochnachmittag kurz nach zwei zu hören, da stellt uns der englische Journalist und Autor Roger Boyes den Roman "Ein folgenschwerer Abend" von Ismail Kadare vor.