Ausländerfeindlichkeit

"Wir typisieren sofort"

Anhänger der Bürgerbewegung pro Deutschland protestieren gegen das neue Flüchtlingsheim in Berlin-Hellersdorf.
Beim Protest gegen Flüchtlingsheime stimmen manche Kritiker mit Argumenten überein, die auch von rechten und rechtsradikalen Gruppierungen gebraucht werden. © Ole Spata/dpa
Armin Nassehi im Gespräch mit Dieter Kassel |
Unser Blick ist dadurch geprägt, dass wir eingrenzen, sagt der Soziologe Armin Nassehi. Er argumentiert, dass auch Menschen, die sich als "links" einschätzen, in Stereotypen denken - auch wenn die behaupten, es nicht zu tun.
Dieter Kassel: Über Solidarität mit den Notleidenden dieser Welt, über den Kampf gegen Armut auch im eigenen Land, und über die bereitwillige Integration von Zuwanderern lässt sich gemütlich reden und schnell Einigkeit erzielen, wenn man bequem mit einem Gläschen Rotwein im Wohnzimmer sitzt. Und wenn die Unterschicht, die man natürlich selbst so nie nennen würde, einige Stadtteile entfernt ist. Die eigenen Kinder aber, die schickt man dann doch lieber auf eine Schule mit minimalem Ausländeranteil, und wenn ein Asylbewerberheim direkt um die Ecke geplant ist, dann findet man schöne Gründe, warum das überhaupt nicht angemessen ist.
Mit diesem Phänomen hat sich Armin Nassehi, Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ausführlich beschäftigt und kam dabei zu erstaunlichen Ergebnissen. Er sitzt jetzt für uns in München im Studio. Schönen guten Tag, Herr Nassehi!
Armin Nassehi: Schönen guten Tag!
Kassel: Wenn jemand Toleranz und Solidarität predigt, dann aber kein Asylbewerberheim im eigenen Viertel möchte und seine Kinder auf eine Eliteschule ohne Problemkinder schickt, ist er dann schlicht und ergreifend ein Heuchler?
Nassehi: Nein, man kann nicht gleich sagen, dass das ein Heuchler sei, sondern das ist ja eine interessante Unterscheidung oder Differenz, auf die wir immer wieder stoßen. Also gedanklich, man könnte sagen, kulturell-intellektuell sind wir natürlich alle Universalisten, das, was sich sozusagen mit einem etwas einfachen Begriff "links" nenne. Wir finden keine Argumente, dass bestimmte Personen weniger wert sind als andere, in der Praxisform, die wir haben, verhalten wir uns dann bisweilen anders. Sie hatten das Beispiel ja etwa schon genannt, dass wir natürlich das Bildungssystem universalistisch öffnen wollen auf der einen Seite, auf der anderen Seite unsere Kinder aber lieber in Klassen mit einem geringen Migrantenanteil schicken oder eben nicht in Stadtteilen wohnen wollen, wo Brennpunkte sind oder Ähnliches.
Ein ähnliches Phänomen finden wir beim Antisemitismus. Sie werden immer nur linke Positionen zur Frage sozusagen der Wertigkeit von Juden finden, aber die Assoziationen, sowohl kommunikativ als auch im Kopf, laufen bisweilen anders ab. Das heißt, man unterscheidet und sieht dann etwas, was womöglich gar nicht da ist. Interessant ist, dass man bisweilen von dem, was die Leute sagen oder was sie denken, selber überrascht wird. Das ist vielleicht das Verrückte daran.
Nicht in meinem Hinterhof!
Kassel: Dieses Phänomen, dass man zum Beispiel sagt, es ist wichtig, dass es mehr und bessere Asylbewerberheime gibt, aber ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, die in meine Straße zu bauen, das nennt man ja auch nimby, not in my backyard, also nicht auf meinem Hinterhof. Kann man das eigentlich als Soziologe erklären, wie das kommt? Weil, die meisten Menschen haben ja nicht wirklich ein schlechtes Gewissen, wenn sie so doppelt argumentieren.
Nassehi: Ja, vielleicht haben sie deshalb kein schlechtes Gewissen, weil die Dinge ja bisweilen ja weit voneinander entfernt sind, und zwar sowohl räumlich als auch intellektuell. Sie sind insofern weit voneinander entfernt, weil die Menschen, die über solche Dinge räsonieren und vor allem auch öffentlich räsonieren, meistens nicht die sind, die unmittelbar betroffen sind von solchen Fragen. Also verstehen Sie mich nicht falsch, ich würde nicht sagen, dass es ein richtigeres Argument ist zu sagen, dass man nun gegen ein Asylbewerberheim in der eigenen Nachbarschaft sein sollte, aber vielleicht sollte man realistischer gucken, dass es unterschiedliche Formen von Betroffenheit gibt.
Dass es so etwas wie Ressentiments dort gibt, wo tatsächlich unmittelbare Konkurrenzsituationen wenn nicht bestehen, so zumindest erlebt werden. Das ist leichter erklärbar als diese merkwürdige Differenz, vor allem von Intellektuellen, die universalistisch genau wissen, wie die Welt sein sollte, aber selbst sozusagen solche Erfahrungen fast nie machen.
Kassel: Wenn wir nun sagen – das ist eigentlich von Ihnen, ich zitiere Sie jetzt – dieses Phänomen kann man ein bisschen vereinfachend auch beschreiben mit "links reden, rechts denken". Was ist denn für einen Soziologen links und rechts dann, jetzt mal jenseits der Politik.
"Links reden, rechts leben"
Nassehi: Ja, das ist natürlich sehr plakativ formuliert. Unter "links" würde ich immer verstehen ein universalistisches Argument. Das würde heißen, jeder Mensch hat die gleichen Rechte, ist gleichwertig, wir gucken Menschen sozusagen danach an, was sie sind, und nicht, zu welchen Gruppen sie gehören. „Rechts“ würde immer bedeuten, Menschen immer nur als Gruppenexistenzen anzusehen, also als Angehörige von Ethnien, von Schichten, von Religionen, von Konfessionen. Also das ist eine sehr einfache Unterscheidung, aber daran kann man eine ganze Menge sehen, weil wir natürlich links reden.
Wir reden universalistisch, aber unsere Assoziationen sind bisweilen dann doch viel weniger universalistisch, als wir das üblicherweise mit Argumenten tun. Also, ich unterscheide zwischen "links reden" und "rechts leben". Das "Rechts" ist eher etwas Praktisches, etwas, das sich bewährt. Und wir wissen ziemlich genau, auch aus der Forschung ziemlich genau, dass so etwas wie Stereotype und Vorurteile nicht dadurch verschwinden, dass die Menschen gebildeter sind oder in sogenannten besseren Verhältnissen leben.
Kassel: Aber wenn ich, Herr Nassehi, jetzt mal einen Teil der Definition von „rechts“, wie Sie sie gerade gebracht haben, nehme, dann ist doch eigentlich Soziologie, sozialwissenschaftliche Forschung, die sich mit rechts beschäftigt. Weil, Sie haben ja gesagt, einzelne Gruppen. Sie können ja auch nicht die Menschheit an und für sich erforschen, Sie erforschen ja eigentlich auch immer einzelne Gruppen.
Soziologie beschäftigt sich mit Integration von Gesellschaft
Nassehi: Ja, wir erforschen natürlich einzelne Gruppen, und es ist ja auch gar nichts gegen einzelne Gruppen zu sagen. Interessant ist ja die Frage, ob wir sozusagen im Alltag Personen immer nur als Gruppenexistenzen wahrnehmen. Es ist ja ganz interessant, wenn Sie sich etwa fragen, wie Migrantinnen und Migranten in dieser Gesellschaft eigentlich auftauchen. Es fällt gerade solchen Gruppen unglaublich schwer, in der Gesellschaft sozusagen nicht nur als Personen, sondern immer auch als Angehöriger solcher Gruppen wahrgenommen zu werden.
Das geschieht bei denen, die also autochthon sind, die irgendwohin gehören, eigentlich nicht. Da sehen wir nur die Person. Das heißt, man schließt im Prinzip von einem Merkmal, eine andere Sprache, eine andere Herkunft, ein anderer Name, auf alle anderen Merkmale. Das würde ich als eher, in Anführungsstrichen natürlich, "rechts" ansehen. Und das ist etwas, was ja fast unvermeidlich ist.
Die interessante Frage ist, unter welchen Bedingungen man das womöglich dann doch in Praxisformen tatsächlich vermeiden kann. Also, man kann es etwas vermeiden, wenn man Erfahrungen mit Personen macht, bei denen man feststellt, dass zum Beispiel das Merkmal, Migrant zu sein oder Jude zu sein oder ein Schwarzer zu sein oder Ähnliches, nicht alles ausmacht, was in der Kommunikation vorkommt.
Sie haben die Soziologie angesprochen. Ich meine, die Soziologie selber ist ja ein Fach gewesen, das sich tatsächlich immer auch dafür interessiert hat, wie so eine Integration von Gesellschaft eigentlich funktioniert und hat sich sehr, sehr lange schwer damit getan, dass es so etwas wie kulturelle Differenz oder Nicht-Einheitlichkeit von Normen und Werten und moralischen Vorstellungen in einer Gesellschaft geben kann. Das heißt, der Beginn der Soziologie ist schon auch ein Beginn eines Denkens, bei dem wir mehr Homogenität unterstellen müssen als Gesellschaften eigentlich haben.
Kassel: Aber ist nicht diese Gruppenzugehörigkeit – Sie haben jetzt, was Migranten angeht, eher das Beispiel gebracht, dass auch der Einzelne, der in diese Gruppe gestopft wird, das vielleicht mal leid ist. Aber ist es nicht umgekehrt auch etwas, was wir als Menschen brauchen, bei aller Individualität. Sind wir nicht froh, uns auch in unserer eigenen Gruppe zu Hause zu fühlen?
Denken in Stereotypen
Nassehi: Einerseits sind wir froh, uns in unserer eigenen Gruppe zu Hause zu fühlen, das ist auch sicherlich notwendig, und dagegen hab ich auch gar nichts. Ich meine, im Prinzip müssen wir in diesen, in Anführungsstrichen natürlich, immer "rechts" leben. Eine völlig universalistische Perspektive ist da völlig unmöglich, schon, weil wir bestimmte Personen kennen und andere nicht kennen, mit bestimmten Erfahrungen machen, mit anderen keine Erfahrungen machen.
Spannend ist doch an der Geschichte, dass wir, wenn wir so leben, diese Gruppenexistenzen womöglich zu den einzigen, ja, wie kann man sagen, Merkmalen von Personen machen. Also wann gelingt es eigentlich, dass man nicht sieht, dass ein Schwarzer schwarz ist? Oder nehmen Sie etwas weniger Drastisches: Wann sieht man eigentlich, wann eine Frau keine Frau ist? Es gibt in Aufsichtsräten heute wahrscheinlich noch Panik, wenn eine Frau dort das erste Mal auftritt. Das heißt, dann bekommen die Personen auf einmal ein Geschlecht. Vorher hatten sie kein Geschlecht, weil nur Männer da waren.
Und das sind ja die Dinge, die langsam so aufbrechen, und bei denen wir dann sozusagen feststellen, wie stark unser Blick natürlich dadurch geprägt ist, dass wir eingrenzen. Sie haben gerade gesagt, das sei auch ganz gut so. Man könnte auch sogar weitergehen und sagen, erkenntnistheoretisch bleibt uns gar nichts anderes übrig, als in Stereotypen zu denken. Wir typisieren sofort. Und meine Perspektive wäre, ein bisschen darauf hinzuweisen, dass auch die sehr stark typisieren, die eigentlich "links" behaupten, dass sie das nicht tun.
Kassel: Könnte man dann sogar so weit gehen, die, um bei Ihrem Bild zu bleiben, "rechts reden" und "rechts leben", sind eigentlich die Ehrlicheren?
Nassehi: Ob sie die Ehrlicheren sind, das weiß ich nicht. Es sind auf jeden Fall die Unangenehmeren. Sie sind ehrlicher insofern, als sie womöglich dann gar nicht mal die intellektuelle Denkanstrengung vornehmen und aus diesen eigenen Ressentiments herauskommen. Wir wissen aus der Forschung ziemlich genau, dass Ressentiments natürlich auch eine Funktion haben. Sie haben genau die Funktion, eine Welt, die sehr unordentlich ist, ordentlicher zu machen. Wenn jemand schon mal "links" denkt und dann nur "rechts" lebt, ist das doch schon ein Fortschritt – hätte ich fast gesagt.
Kassel: Ja. Da würde ich Ihnen sogar zustimmen, aber wenn wir uns jetzt vorstellen, es gäbe wirklich nur noch eine einzige Gruppe auf der Welt, und das sind die bis dahin vielleicht zehn Milliarden Menschen, und das ist eine Gruppe, die sich nicht mehr untereinander unterscheidet – würde uns das nicht alle im Alltag völlig überfordern?
Dankbar für Sarrazin
Nassehi: Das würde uns total überfordern, das könnten wir schon aus wahrnehmungsphysiologischen Gründen überhaupt nicht aushalten. Das ist auch nicht mein Argument, dass wir eine große Gruppe wären. Das wäre ein sehr naives Argument. Mein Argument ist eigentlich nur, dass mit einem universalistischen Argument noch kein einziges Problem gelöst ist.
Wir haben doch etwa im Nachgang mit der Sarrazin-Debatte vor ein paar Jahren wunderbar gesehen, wie dankbar die Menschen eigentlich waren, dass auf einmal da jemand war, der vergleichsweise legitim, quasi rechts reden konnte und dann gewissermaßen eine Kaskade von Kommunikation entstanden ist, dass man endlich mal Dinge sagen konnte, die man vorher nicht sagen durfte. Das ist doch für mich geradezu ein empirisches Beispiel dafür, dass da viel Unbehagen ist. Und dieses Unbehagen muss man, das ist ein komisches Argument, ich gebe es zu, ernst nehmen, und zwar epistemologisch und soziologisch ernst nehmen uns sich fragen, unter welchen Bedingungen diese Ressentiments eigentlich entstehen, um dann darüber nachzudenken, wie man sie womöglich überwinden kann.
Kassel: Um konkret noch mal auf das Beispiel der Schule, zu der man sein Kind schickt, zu kommen: Denken Sie denn eher – oder was haben Ihre Forschungen ergeben –, dass jemand bewusst daran glaubt, dass es das Beste ist, wenn wir alle Kinder gemischt auf eine Schule schicken, solange er kein Kind hat, und er ändert seine Meinung, wenn er plötzlich wirklich vor dieser Frage steht, oder ist es wahrscheinlicher, dass der das heimlich immer schon geglaubt hat?
Nassehi: Da gibt es ganz unterschiedliche Typen. Ich glaube, das ist sozusagen eine Praxisfrage. Es heißt ja auch nicht, dass Schulen, die einen hohen Migrantenanteil haben, schlechter funktionieren. Sondern es ist ganz umgekehrt so, dass das quasi die Ängste sind, die dort laufen, und wir müssen wahrscheinlich in den Schulen selber ein bisschen sensibler dafür werden, was man eigentlich tun muss, damit diese unterschiedlichen Gruppenexistenzen bei Jugendlichen dann tatsächlich so aufgehoben werden, dass die Jugendlichen sich als Jugendliche wahrnehmen. Da gibt es ja durchaus Ansätze, und da gibt es ja auch Praxisformen, dass diese Ängste da sind, und dass man sozusagen versucht, sich davon zu entfernen. Das ist für mich das interessante Datum. Am Ende, auch wenn das ein naives Argument ist, glaube ich, läuft es nur über ein Praxis. Wenn man gemeinsam praktische, positive Erfahrungen macht, dann wird sich das Problem eher legen. Wir kennen das aus der Antisemitismusforschung. Die meisten Antisemiten gibt es dort, wo man keinen Juden zu Gesicht bekommt.
Kassel: Ähnlich bei der Ausländerfeindlichkeit, wenn man sich die Bundesländer anguckt.
Nassehi: In der Tat.
Kassel: Danke Ihnen sehr! Professor Armin Nassehi war das, Soziologe von der Universität, über das uns bekannte, auch wenn wir das vielleicht nicht so genannt haben, uns allen bekannte Phänomen des "links reden" und "rechts leben". Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Nassehi!
Nassehi: Ich danke ebenso!
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