Ein eiskalter Winterabend in Berlin. Romy Padilla stapft in viel zu dünner Winterjacke durch den Bezirk Neukölln, die kräftigen Hände tief in den Taschen vergraben. Hier und da muss der 30-Jährige einem Müllhaufen ausweichen, an einer Ecke versperrt ein aufgeschlitztes Sofa den Weg. Dann wieder lassen Lichterketten die kahlen Kastanienbäume auf einem Platz so heimelig leuchten, dass Romy Padilla kurz innehält.
„Ja, gefällt mir hier in Berlin, weil ich finde, dass Berlin schön ist und Sicherheit im Vergleich zu meinem Heimatland. In der Nacht kannst du laufen. In meinem Heimatland kannst du laufen, aber mit Angst. Hier ich kann laufen ohne Angst.“
Romy Padillas Atem steigt als weißer Dampf vor seinem Mund auf, während er spricht. -3 Grad zeigt das Thermometer in einem Ladenfenster. Ganze 20 Grad weniger als in seiner Heimatstadt Baguio City. Romy Padilla kommt von den Philippinen. Seit bald zwei Jahren arbeitet der studierte Krankenpfleger in einem der größten Krankenhäuser Berlins. Zumindest die deutschen Patienten freuen sich, dass er da ist, erzählt er.
„Manchmal ich erhalte Geschenk oder Geld. Gestern habe ich von der Patientin einen Brief mit Geld erhalten. Und da habe ich gesagt, vielen Dank – obwohl ich Ausländer bin. Und die Deutsche hat geantwortet schnell: Das ist Quatsch! Ja, du bist Ausländer, aber das ist nicht wichtig. Was wichtig ist, was du machst. Und ich war so froh, dass ich hier bin, und ich hab‘ gedacht, das tut gut von dem Herz, ja.“
Täglicher Anruf nach Hause
Wenn er nach acht Stunden Dienst in seinem Einzimmerappartement am Rande Berlins ankommt, ruft Romy Padilla als Erstes seine Mutter auf den Philippinen an. Jeden Tag. Geschichten, wie die von der dankbaren Patientin, hört sie besonders gern.
„Ich telefoniere immer mit meiner Mutter. Gott sei Dank gibt es Facetime. Also wenn nicht, also ach ... Ich fliege nach Philippinen sofort.“
Jenseits des Handydisplays hat Romy Padilla seine Mutter und die drei jüngeren Geschwister seit der Abreise vor bald zwei Jahren nicht mehr gesehen. Auch nicht im Urlaub. Den hat er stattdessen für die Vorbereitung seiner Anerkennungsprüfung in Berlin genutzt. Mit Erfolg. Inzwischen ist er anerkannte Pflegefachkraft – verdient damit genauso viel wie seine deutschen Kolleginnen und Kollegen.
„Ja, ein Teil bleibt für meine Wohnung und Lebensmittel und dann das andere Gehalt schicke ich an meine Familie, für das Studium und Lebensmittel oder so. Mein Vater ist schon gestorben, und ich möchte, dass meine Mutter nichts mehr macht. Es ist nicht unsere Verantwortung als Kinder. Aber wir müssen unterstützen unsere Eltern irgendwie. Deswegen habe ich mich entschieden, in anderem Land zu arbeiten.“
Vier Jahre lang hat Romy Padilla auf den Philippinen Krankenpflege studiert, danach sechs Jahre auf einer Intensivstation gearbeitet. Zwölf Stunden pro Schicht – manchmal mehr – für ein Gehalt, das kaum zum Leben reichte. Ein Job im Ausland schien ihm wie so vielen Philippinern seiner Generation ein Ausweg zu sein. Dass er in Deutschland landete, war Zufall. Die Einreiseprozedur war schlicht einfacher als etwa nach Großbritannien.
„Ich habe im Internet gelesen, und dann habe ich mich beworben. Und ich hatte Glück. Dann musste ich noch die deutsche Sprache lernen, sechs bis acht Monate. Dann drei Prüfungen, von A1 bis B1. Dann, als ich hierhergekommen bin, musste ich noch mal einen Sprachkurs machen bis zur B2-Prüfung, bis zur Anerkennung. Also sprachlich schwer, eine Herausforderung. Aber Sie müssen Opfer vollbringen für den Erfolg.“
Das Bemühen um ausländische Fachkräfte
Triple Win heißt das Programm, mit dem Romy Padilla es nach Deutschland geschafft hat. Seit genau zehn Jahren wirbt die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ darüber gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Fachkräfte wie ihn gezielt an. Parallel zu den Bemühungen unzähliger privater Agenturen und großer Krankenhausketten.
Denn gut 60 Jahre nach Abschluss des Anwerbeabkommens mit der Türkei, sechs Jahrzehnte, nachdem schon einmal Hunderttausende Menschen zum Arbeiten nach Deutschland geholt wurden, ist die deutsche Wirtschaft erneut dringend auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Auch und besonders der Gesundheitssektor. Allein dort könnten laut Schätzungen im Jahr 2035 1,8 Millionen Stellen unbesetzt bleiben, weil qualifizierte Kräfte fehlen.
„Guten Tag, mein Name ist Thao, und ich komme aus Vietnam. Also Südvietnam. Ich bin 26 Jahre alt, und vor zwei Jahren bin ich nach Deutschland gekommen.“
5400 Pflegefachkräfte brachte das Triple-Win-Programm seit 2013 nach Deutschland. Überwiegend junge Menschen aus Bosnien Herzegowina, Tunesien, Indonesien, Indien, Vietnam und von den Philippinen.
„Es gibt so viele Gründe, warum ich nach Deutschland gekommen bin. Deutschland hat eine bessere Versorgung und Sozialsystem und Arbeitsbedingungen als in Vietnam. Und man kann hier als Krankenschwester besser verdienen, damit man die Familie in Vietnam unterstützen kann oder man ein besseres Leben haben kann.“
Wer profitiert vom Anwerbeprogramm?
Romy Padillas Geschichte steht für Tausende andere. Noch in seiner Heimat hat er Auswahlgespräche und erste Sprach- und Pflegefachkurse absolviert. Auch bei der Vorbereitung seiner Dokumente, dem Visaantrag und schließlich den Online-Bewerbungsgesprächen mit deutschen Krankenhäusern unterstützten ihn die Triple-Win-Mitarbeiter.
„Triple-Win ist ein Programm, das die GIZ und die Bundesagentur für Arbeit entwickelt hatten, vor dem Hintergrund im Prinzip des demografischen Wandels, den wir jetzt gerade vorfinden“, sagt Björn Gruber. Projektleiter der Triple-Win-Programme bei der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Bonn.
„Wir haben uns gedacht, wenn in den Partnerländern, mit denen wir zusammenarbeiten, weiterhin die Bevölkerung wächst und auf der anderen Seite unsere Bevölkerung schrumpft, wird es früher oder später zu höherer Migration kommen. Und wie die dann organisiert wird, das war die Frage.“
Triple-Win, das bedeutet: dreifacher Gewinn. Denn anders als bei den sogenannten Gastarbeiter*innen, die in den 1960er- und 1970-Jahren zwar ebenfalls gezielt angeworben, dann aber größtenteils sich selbst überlassen wurden, soll die Migration dieses Mal für alle Beteiligten nur Vorteile bringen. Björn Gruber, Projektleiter bei der GIZ:
„Zum einen ist es zum Vorteil der Menschen, dass sie einen sicheren Weg finden, wie sie die Migration angehen, dass sie gut informiert sind, dass sie die entsprechende Qualifikation haben, um relativ schnell Fuß fassen zu können und eben auch ihre Berufsabschlüsse anerkennen zu können. Für die Zielländer liegt es auf der Hand: Da sind gut vorbereitete Fachkräfte, deren Hintergrund man einschätzen, deren Einarbeitung man vorbereiten kann. Und für die Herkunftsländer stellt sich der Vorteil in zweierlei Hinsicht.
Zum einen, es soll kein Partnerland im Triple-Win-Programm teilnehmen, wo Fachkräfte dann in einen Mangel münden, sondern, darum geht es eben wirklich, Fachkräfte zu gewinnen dort, wo eben ein Überhang an Fachkräften vorhanden ist. Und dann natürlich die Vorteile, die die Migration mit sich bringen kann, wenn sie gelingt. Nämlich eine erfolgreiche persönliche Entwicklung, aber eben auch Rücküberweisungen, die oft der Familie zugutekommen, in Bildung investiert werden, dass es zu Know-How-Transfer kommt, dass Menschen im Prinzip die Kooperation zwischen den beiden Ländern auch gestalten auf lange Sicht.“
Theorie und Wirklichkeit klaffen oft auseinander
Nur: Was in der Theorie nach einer Art Rundumsorglos-Migrationspaket klingt, macht in der Realität nicht alle Beteiligten glücklich. Die Hamburger
Wirtschaftspsychologin Grace Lugert-Jose – selbst gebürtige Philippinerin – führte 2021 eine Onlineumfrage unter 109 eingewanderten Pflegekräften durch.
„Das Thema war: Wie zufrieden sind die philippinischen Pflegefachkräfte in Deutschland? Und bei dieser Studie ist rausgekommen, dass viele unzufrieden sind.“
47 Prozent, etwa die Hälfte der Befragten, würden ihren Job nicht an Freunde oder Verwandte in der Heimat weiterempfehlen, so Lugert-Joses Ergebnisse. Vor allem Heimweh, das Gefühl, nicht wirklich willkommen zu sein, beruflich nicht ausreichend wertgeschätzt zu werden und rassistische Diskriminierungen am Arbeitsplatz, werden als Gründe genannt.
Alles Dinge, die auch Pfleger Romy Padilla in Berlin tagtäglich beschäftigen. Wenn er seiner Mutter von Deutschland erzählt, dann schwärmt er zwar – von den fortschrittlichen Geräten, die sie hier auf Station nutzen, von seiner bestandenen Fachkraftprüfung und den hygienischen Standards … Doch über seine Schwierigkeiten, vor allem mit den deutschen Kolleginnen und Kollegen, spricht er nicht.
„Ich sage nichts über meine Probleme hier in Deutschland, weil ich möchte, dass meine Mutter keine Angst hat. Deswegen sage ich erst mal: ‚Es ist gut.‘“
Pfleger Romy Padilla kommt von den Philippinen. An seinem Berliner Krankhaus fühlt er sich nicht wohl und überlegt, aus Deutschland wieder wegzugehen. © Deutschlandradio / Luise Sammann
Später aber, wenn die Arbeit getan und das Telefon ausgeschaltet ist, greift der 30-Jährige häufig zu seiner Gitarre. Dem einzigen Luxus, den er sich seit seinem Umzug nach Deutschland gegönnt hat.
„Bei uns im Krankenhaus musst du einen Kleidungsschrank haben. Aber bei mir passiert das nicht. Ich bin schon seit fast zwei Jahren im Krankenhaus. Aber ich ziehe mich aus, an auf dem Klo. Für fast zwei Jahre. Und ich bin enttäuscht. Weil ich habe schon mehrmals gesagt zu meiner Leitung, warum mache ich das? Und die Leitung sagt einfach, vielleicht nächstes Mal, ich hab‘ schon beantragt etc., aber passiert gar nichts! Ich verstehe es nicht. Ich weiß, dass die Leitung ist viel beschäftigt. Aber diese kleinen Dinge muss sie anpassen.“
„Mein Lehrer hat mir gesagt, die Deutschen sind nett und direkt. Aber als ich hier angefangen habe, habe ich gemerkt, das ist nicht so. Weil die meisten deutschen Kollegen sind nicht direkt, sondern sprechen hinter dem Rücken. Und es gibt auch einige deutsche Kollegen, die absichtlich schnell sprechen. Obwohl sie wissen, dass du nicht gut verstehst. Und dann lachen sie, wenn sie nicht die Dinge verstanden haben. Ich habe ein paar deutsche Kollegen gefragt darüber. Sie meinten, dass vielleicht die ausländischen Kollegen stehlen unseren Job. Ich habe gesagt, nee, wir helfen! Wir sind hier für Hilfe, nicht für Stehlen.“
Unterschiedliche Ausbildungen sorgen für Frust
Spannungen zwischen etabliertem und neu hinzukommendem Personal in Betrieben sei normal, sagt
Maria Kontos, vom Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Gerade im Pflegebereich aber hätten sie eine besondere Dimension, so die Migrationsforscherin.
„Es ist so, in vielen Ländern ist die Ausbildung zur Pflegefachkraft eine akademische Ausbildung. Es ist ein ganz großes Problem, scheint es, dass die angeworbenen Pflegefachkräfte überrascht sind durch diese Differenz der Pflegearbeit in Deutschland und dem, was sie kannten. Sie müssen Aufgaben durchführen, die in ihrem eigenen Herkunftsland von Helferinnen ausgeführt wurden und manchmal auch von den Familienangehörigen der Patienten. Und das bedeutet, die Arbeit in der Körperpflege, Arbeit am Bett. Das ist eine große Kränkung, die dann auch diese Spannung zwischen Etablierten und Außenseitern auch prägt.“
Für ihre 2019 veröffentlichte Untersuchung „Betriebliche Integration von Pflegefachkräften aus dem Ausland“ befragten Maria Kontos und ihre Kolleginnen neu nach Deutschland migrierte Pflegekräfte. Die Ergebnisse verglichen sie dann mit den Antworten von etablierten, in Deutschland sozialisierten Pflegefachkräften.
„Die hier sozialisierten Pflegefachkräfte, die denken: Diese Zugewanderten haben zwar einen akademischen Abschluss, aber können nicht mal die Arbeit am Bett ausführen. Da wird auch gesagt, sie sind faul oder die denken, sie sind was Besseres. Solche Vorstellungen werden auch ausgesprochen und ja, das ist das große Problem, das auch die ganzen Schwierigkeiten ausmacht.“
Probleme durch unterschiedliche Erwartungen
Romy Padilla wusste, dass das Gesundheitssystem in Deutschland anders funktioniert als auf den Philippinen. „Pflegefachkurs“ hieß der fünftägige Lehrgang, den er noch in der Heimat absolvieren musste. In mehreren Sitzungen sollten die Teilnehmenden auf bestehende Unterschiede zwischen dem Herkunft- und dem Zielland vorbereitet werden.
Das sogenannte „Erwartungsmanagement“ spiele eine größere Rolle als noch vor einigen Jahren, erklärt auch Projektleiter Björn Gruber von der GIZ. Man habe aus Fehlern gelernt und das Programm angepasst. Und dennoch zeigten ihre Gespräche immer wieder, dass das nicht ausreiche, so Wissenschaftlerin Maria Kontos.
Auf jeden Fall hat man den Eindruck, wenn die Pflegefachkräfte herkommen, dann sind die überrascht und etwas entsetzt über das, was hier ist. Als ob sie entweder nicht gesagt bekommen haben, wie es wirklich ist, oder sie das nicht wirklich einordnen konnten, was ihnen gesagt wurde. Wenn die Leute gewusst hätten, wie es hier ist, wären sie zumindest nicht überrascht. Sondern würden sagen, ja, das habe ich gemacht, weil ich trotzdem auf das Gehalt angewiesen bin. Aber meistens ist das nicht so.
Maria Kontos
Die Folge sind enttäuschte oder unglückliche Menschen wie Romy Padilla, die Deutschland als ein fortschrittliches, aber kaltes Land erleben. Ein Land, in dem man Geld verdienen, aber nur schwer glücklich werden kann. Das wiederum ist auch ein Problem für die Arbeitgeber. Unter ausländischen Fachkräften ist die Fluktuation schon heute höher, als es sich die deutsche Wirtschaft angesichts des großen Fachkräftemangels leisten kann.
„Zu- und Abwanderung, das gehört beides zusammen. Deutschland ist ein offenes Land, und da gehört das einfach dazu, dass Menschen in beide Richtungen einfach hin- und herwechseln.“
Hohe Fluktuation bei ausländischen Fachkräften
Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg.
„Aber man kann sehen, Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in Deutschland haben eine Fortzugsquote von zehn Prozent. Also jeder Zehnte pro Jahr geht wieder. Und das ist im internationalen Vergleich schon ziemlich hoch. Denn die Demografie, die zieht den Arbeitsmarkt in Deutschland nach unten. Wir brauchen mittelfristig ein Wanderungssaldo von plus 400.000 Personen pro Jahr, um im Arbeitsmarkt zumindest nicht zu schrumpfen. Aber das bedeutet halt auch, wenn die Abwanderungsquote von zehn Prozent konstant bleibt, dann steigt auch die Abwanderung damit jedes Jahr um 40.000, und dann müsste man im nächsten Jahr noch mal mehr Zuwanderung anziehen. Das geht irgendwann in Bereiche, die als Zuwanderungszahlen überhaupt nicht mehr realistisch sind. Über zwei Millionen brutto Zuwanderung.“
Was abstrakt und zahlenlastig klingt, heißt am Ende nur eins: Anwerben und bezahlen reichen nicht. Deutschland muss die so dringend benötigten ausländischen Arbeitskräfte auch langfristig im Land halten, damit am Ende alle Beteiligten profitieren. Doch die Realität – so Wirtschaftspsychologin Grace Lugert-Jose aus Hamburg – sieht bisher anders aus.
„Es wird immer präsenter, das Thema, dass Deutschland eben doch nicht mehr so das gewünschte Land ist, wo sie bleiben möchten. Und das macht mich natürlich auch traurig, weil das Potenzial, was wir hier schon haben, wieder zu verlieren, weil sie sich unwohl fühlen, weil sie nicht so wirklich sich akzeptiert gefühlt haben ... Das zeigt natürlich, dass da eben noch viel, viel dafür getan werden muss, damit sie langfristig hierbleiben.“
Kulturelle Missverständnisse sorgen für Konflikte
Grace Lugert-Jose kam vor 23 Jahren nach Deutschland. Heute bietet sie bundesweit Workshops an, um Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen bei der Integration internationaler Pflegefachkräfte zu unterstützen. Viele Konflikte, so die Expertin, beruhen auf kulturellen Missverständnissen. Aber auch auf der Annahme, dass die Integration Hunderter oder gar Tausender Mitarbeiter unterschiedlichster Herkunft ganz allein klappen könnte.
„In vielen Einrichtungen wird das gar nicht angeboten. Und da sehe ich wirklich ganz viele Negativbeispiele. Dass die Belegschaft eigentlich am Ende nur noch frustriert ist und gar keine Lust mehr haben, Leute aus dem Ausland zu bekommen, im Team sie noch mal einzuarbeiten. Wenn die doch alle wieder gehen werden.“
Die Wirtschaftspsychologin und interkulturelle Beraterin Grace Lugert-Jose versucht, kulturelle Barrieren abzubauen und gegenseitiges Verständnis zu fördern.© Deutschlandradio / Luise Sammann
Integration, so erklärt Grace Lugert-Jose gern, ist weder Zauberei noch Zufall. Sie kann funktionieren, wenn alle Seiten dafür arbeiten. Wie, das erklärt sie bei ihren Workshops für Klinikpersonal und -führungskräfte in ganz Deutschland.
„Das, was ich beobachte, was auf jeden Fall sehr gut ankommt, ist erst mal zu verstehen. Erst mal der Begriff Kultur. Welche Konsequenzen hat das, dass eben die Phlippinos wir-orientierter sind und wir vielleicht in Deutschland eher ich-orientiert sind? Was bedeutet das dann für meine Arbeit?“
Ein Beispiel: Deutsche Vorgesetzte beschweren sich häufig darüber, dass Menschen von den Philippinen auf Fragen grundsätzlich mit „Ja“ antworten. Selbst, wenn sie etwas nicht verstanden haben.
„Ich habe das auch schon mitbekommen, dass einige gesagt haben: ‚Ach, immer dieses Ja-sagen, für mich ist das doch eine Lüge.‘ Und ich finde es auch wichtig, dass die Leute genau diese Dinge sagen in so einem Workshop.“
In Workshops ist Zeit für kulturelle Feinheiten
Lugert-Joses Herangehensweise: Sie lässt die Teilnehmer das „Ja“ ihrer philippinischen Mitarbeiter im Workshop möglichst genau wiederholen, bittet sie, sich die Situation genau vor Augen zu führen. Wie und wohin hat ihr Gegenüber geschaut? Wie genau klang sie oder er?
„Die non-verbale Kommunikation spielt in anderen Kulturen wirklich eine große Rolle, weil die Mimik und Gestik und Ton oder Tonfall können nämlich die Aussage verändern. So und dieses ‚Ja‘ … Und wenn man dann auch noch so ein bisschen zur Seite schaut und dann der Tonfall vielleicht auch nicht dieses ‚Ja‘, dieses bestimmte ‚Ja‘, sondern auch ein bisschen in Wellen … Dann könnte man sich eigentlich schon denken oder sich vorstellen: Okay, es wurde vielleicht nicht alles verstanden.“
Eine mutwillige Lüge aber stecke im Normalfall nicht dahinter. Im Gegenteil.
„Man ist ihnen dankbar, als Philippina, dass Sie sich die Zeit nehmen, diese ganzen Inhalte mir beizubringen, und man möchte Ihnen vielleicht auch nicht noch zusätzlichen Aufwand bereiten, indem man sagt: ‚Nee, habe ich nicht verstanden. Erklären Sie mir bitte alles noch mal.‘“
Deutsche sind oft direkt. So lernen es die ausländischen Pflegekräfte in ihren fünftägigen Vorbereitungskursen. Doch lebenslang antrainierte Verhaltensweisen lassen sich nicht in wenigen Tagen, Wochen oder Monaten ablegen, so Grace Lugert-Jose. Auch deutsche Vorgesetzte könnten und müssten deswegen zum Beispiel lernen, Fragen von Anfang an anders zu stellen, offener.
„Man sagt ja auch, beide Seiten müssen was dafür tun, damit Integration funktionieren kann. Und das ist ein Geben und Nehmen.“
Einarbeitung nicht auf Angestellte abwälzen
Zu denen, die das ähnlich sehen, gehört Tatjana Sambale, ausgebildete Pflegefachkraft und resolute Gewerkschafterin aus Mittelfranken. Ihre Überzeugung: Deutsche Arbeitgeber müssen zusätzliche finanzielle und zeitliche Ressourcen investieren, um einen Wandel zu ermöglichen. Gerade in Stress- und Notfallsituationen reiche es nicht, wenn die Pflegenden zuvor in einem vierstündigen Workshop für die schwere Lage ihrer neuen Kolleginnen und Kollegen sensibilisiert wurden.
„Die Kolleginnen machen an sehr vielen Punkten immer wieder deutlich, dass sie zu wenige sind auf den Wohnbereichen und Stationen in der Pflege, im ganzen Land. Und dann wird oftmals kommuniziert, ja, es werden Kolleginnen aus dem Ausland angeworben. Was aber in der Realität dann leider oft passiert, ist, dass die Kolleginnen kommen, dass sich auf die gefreut wird, natürlich als Entlastung. Und dass die Kolleginnen, die schon auf den Stationen sind, aber erst mal erleben, dass es für sie eine zusätzliche Belastung ist, diese Kolleginnen einzuarbeiten.
Und dass es eben nicht die versprochene Entlastung ist, sondern dass zunächst mal im tagesaktuellen Geschehen für sie ein On-Top ist, diese Kollegin mit an die Hand zu nehmen und sie erst mal in die Arbeitsabläufe einzuarbeiten. Und ich glaube, da liegt erst mal die erste Schwierigkeit. Eigentlich müsste das von den Kliniken, müsste das von den Heimen geleistet werden, darf es nicht zusätzlich on top auf die überlasteten Kolleginnen abgewälzt werden.“
Es braucht extra Ankommens- und Einarbeitungszeiten und flächendeckende Sprachkurse für die neuen Kolleginnen, so Tatjana Sambale. Dass Integration mit solchen Instrumenten weder Zauberei noch Zufall ist, zeigen Positivbeispiele, wie etwa am
Universitätsklinikum Tübingen. Patrizia Prestifilippo Cirimbolo ist hier Leiterin des internationalen Pflegepools.
„Wir haben unseren Sprachkurs vorher gestückelt gehabt über diesen Zeitraum von 18 Monaten, das heißt, man ist mit einem B1-Niveau angereist. Man konnte gerade mal sich vorstellen und vielleicht ein paar Worte mehr sprechen. Und dann ging es aber schon ans Bett, und man musste den Dialekt verstehen, man musste die Anweisungen aus dem Team verstehen, und das war einfach eine große Herausforderung für die Internationalen.“
Den Mut haben, Prozesse auch umzustellen
Nach negativen Erfahrungen und Frust bei allen Beteiligten, habe man den gesamten Ankommensprozess im vergangenen Jahr neu gestaltet, so Patrizia Prestifilippo Cirimbolo.
„Das heißt, alle Internationalen kommen erst mal hier an, werden von uns begleitet für Bürgeramtstermine, für alles, was man braucht, um hier überhaupt in Deutschland zu starten, und kommen dann in einen vierzehnwöchigen B2-Sprachkurs, der mit unserer lokalen Sprachschule hier in Tübingen gemeinsam zugeschneidert wurde, aber auf dem Niveau B2-Pflege ist. Und dass sie erst nach der B2-Prüfung auf Station kommen und somit für sie die Kommunikation leichter ist mit dem Team, mit den Patienten und auch der Wissenstransfer gesichert werden kann.“
Strukturen, die sich auch Romy Padilla in Berlin für seinen Neustart als Krankenpfleger in Deutschland gewünscht hätte.
Es ist früh am Morgen. Der 30-Jährige hat gerade acht Stunden Nachtdienst hinter sich. Doch er ist nicht nur müde, sondern auch unzufrieden. Wieder hat ihn die Teamleitung zu neun Tagen Nachtdienst am Stück eingetragen, obwohl er schon mehrfach darum gebeten hat, ihn häufiger am Tag einzusetzen. Der Gedanke, dass seine Arbeit in Deutschland nicht genug wertgeschätzt wird – es ihm anderswo vielleicht besser ergehen könnte, lässt ihn gerade nach solchen Erlebnissen nicht mehr los.
Erst mal würde ich sagen, das System hier ist gut. Aber muss ich überlegen. Weil ich nicht zufrieden bin. Also wenn‘s nicht funktioniert, vielleicht gehe ich schon in anderes Land. Vielleicht USA oder London.
Romy Padilla
Wirtschaftspsychologin Grace Lugert-Jose überrascht das nicht. Andere Länder sind bei philippinischen Pflegekräften beliebter als Deutschland. Allein der Sprache wegen. Umso wichtiger sei es deswegen, dass Deutschland ihnen auf anderer Ebene mehr biete. Durch das Gefühl, wirklich willkommen zu sein etwa. Aber auch durch eine Gesetzgebung, die für gute Integrationsangebote, eine Aussicht auf Einbürgerung und eine echte Perspektive in Deutschland sorge. Ohne all das, so ist sie sicher, hat Deutschland im internationalen Wettbewerb um Fach- und Arbeitskräfte keine Chance.
„Wenn ich überlege, was da in sozialen Medien an Informationen … Wie schnell das verbreitet wird ... Sie sind ja wirklich jung, die Pflegekräfte, die herkommen aus dem Ausland, und sind alle gut vernetzt. Wenn jemand da vielleicht auch einmal ganz blöde individuelle Erfahrungen gemacht hat, schreibt derjenige das dann auch in Facebook. Und dann wird das auch sofort verbreitet. Und das wäre einfach nur schade, weil die Regierung tut so viel, um nicht nur Pflege- oder Fachkräfte allgemein im Ausland zu gewinnen. Und jetzt haben wir sie da, können sie aber nicht halten. Das ist einfach nicht zu Ende gedacht. Denn die herzuholen, ist scheinbar nicht mehr das Problem, sondern sie hier zu halten.“
Redaktion: Franziska Rattei
Regie: Beatrix Ackers
Technik: Hermann Leppich
Sprecherin: die Autorin