Auslese der deutschen Literatur
Von 430 Bewerbern um den Preis der Leipziger Buchmesse wurden 15 nominiert, die nun um eine Auszeichnung in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung konkurrieren. Die beiden Jurymitglieder Ursula März und René Aguigah stellen die Finalisten vor.
Susanne Führer: 430 Titel wurden von den Verlagen für den Preis der Leipziger Buchmesse eingereicht. Die Jurymitglieder haben also gelesen und gelesen und gelesen - und nun stehen die 15 Nominierten für den Preis fest, jeweils fünf Bücher nämlich in den drei Kategorien: Belletristik, Sachbuch beziehungsweise Essayistik und drittens Übersetzung. Ja, und ich freue mich sehr, dass wir nun zwei Mitglieder der Jury hier im Studio haben, die trotz des Lesemarathons eigentlich ganz entspannt aussehen. Ich begrüße die Literaturkritikerin Ursula März. Hallo, Frau März!
Ursula März: Guten Tag!
Führer: Und außerdem meinen Kollegen René Aguigah, hier im Deutschlandradio Kultur Abteilungsleiter Kultur und Gesellschaft. Guten Tag, Herr Aguigah!
René Aguigah: Hallo, guten Tag!
Führer: Ja, ich würde vorschlagen, wir beginnen mal mit der Literatur, gehen mal ein bisschen alphabetisch vor, so viel Zeit haben wir nicht, so eine Kurzvorstellung. Aber Frau März: Ralph Dohrmann, "Kronhardt" heißt der Roman, ein richtig dicker Schinken.
März: Und ein dickes Debüt, dass finde ich ganz erstaunlich. Es sind 900 Seiten, es liest sich in der Tat nicht wie ein Debüt, aber ich denke, Ralph Dohrmann ist 1963 geboren, also so jung auch wieder nicht. Interessant daran: Es ist in gewisser Weise eine Antwort auf die "Buddenbrooks", nämlich die Geschichte einer Bremer Stickerei-Manufaktur. Der Erbe, der Wilhelm, ist allerdings sehr viel jünger, in den 50er-Jahren geboren. Ein riesiges Sippengemälde auch durch die Bundesrepublik, sehr spröde, interessant geschrieben. Ja, um im Alphabet zu bleiben, …
Führer: Ja?
März: … nach Dohrmann kommt – das Alphabet sollte man ja beherrschen als Jurorin …
Führer: Lisa Kränzler habe ich da, "Nachhinein", das ist ein ganz anderer Roman.
März: Lisa Kränzler – etwas ganz Besonderes. Lisa Kränzler darf man tatsächlich als junge Autorin kennen, man hat sie in diesem Jahr in Klagenfurt gehört, da hat sie einen Auszug gelesen aus diesem sehr experimentellen, sprachlich und in der Reflexion sehr experimentellen Coming-of-Age-Roman. Es geht um zwei Freundinnen, deren Kindheit und Jugend erzählt wird, zwei sehr verschiedene Freundinnen, die eine bürgerlich, die andere proletarisch. Das Interessante daran finde ich, und das will ich auch schon mal summarisch als Tendenz für die ganze Belletristik-Shortlist sagen: In einer sehr avantgardistischen Schreibweise haben wir es hier mit sozialer Realität durchaus zu tun.
Führer: Wir hatten vorhin die Antwort auf die "Buddenbrooks" – ich drücke ein bisschen auf die Tube, wie Sie merken –, jetzt haben wir die Antwort auf den "Turm", nämlich von Birk Meinhardt, "Brüder und Schwestern".
März: Genau, ja, ein sogenannte DDR-Roman, ein komischer Begriff, aber man weiß um was es geht. Er spielt zwischen den 70er-Jahren bis zur Wende, auch ein Wälzer, 700 Seiten, eben in gewisser Weise eine Antwort auf den "Turm", weil wir es hier nicht mit dem Großbürgertum, dem Bildungsbürgertun zu tun haben, sondern mit sogenannten kleinen Leuten. Ein sehr barock-ausführlicher Roman mit vielen Dialogen, vielen verschiedenen Figuren und auch Sonderlingen – also wir kommen ins Zirkusmilieu, wir kommen ins Milieu der Flussschiffer, und wenn ich es richtig verstanden habe, wird Birk Meinhardt daran noch weiterschreiben.
Führer: Dann kommen wir zu einem sehr bekannten Autor, wo man gar nicht weiß, ist das jetzt wirklich so ein Roman: David Wagner, "Leben", da geht es um Organtransplantationen …
März: Tja, ist das ein Roman, ist es ein Sachbuch …
Aguigah: Ich habe zumindest ganz kurz mal … Ich habe ja mitgelesen auch die Sachen, obwohl ich mich professionell mehr mit Non-Fiction-Literatur beschäftige. Und bei David Wagner, da besteht immer die schöne Gefahr während des Lesens, dass man kurz denkt, der Autor erzählt tatsächlich einfach sein eigenes Leben runter, so seine Krankheitsgeschichte. Es geht um eine schwere Erkrankung der Leber – das müssen Sie, Ursula März, gleich noch mal in zwei Sätzen besser sagen –, und da besteht immer ein bisschen die Gefahr, dass man denkt, man hätte es mit einer wahren Geschichte zu tun. Das kann aber ja wohl nicht wahr sein.
März: Doch, das ist in diesem Fall tatsächlich wahr, also es sollte uns für belletristische Literatur eigentlich egal sein, ob es erfahren ist. Es ist aber so, es ist die Geschichte einer Organtransplantation, der Ich-Erzähler – man könnte ihn auch fast als einen Tagebuch-Schreiber bezeichnen –, der sozusagen alles wahrnimmt, was er im Zwischenreich zwischen Leben und Tod im Krankenhaus erfährt, erhält eine neue Leber, die er dringend braucht, sonst würde er sterben, und das ist tatsächlich auch die Geschichte von David Wagner. Finde ich persönlich aber für die Dringlichkeit, für die große Kunst der Leichtigkeit, mit der hier die schwierigsten Themen des Lebens, nämlich die des Todes und der Todesnähe behandelt werden, fast gleichgültig.
Führer: Soziale Fragen haben Sie vorhin schon erwähnt Frau März …
März: Hier haben wir die natürlich auch: Krankenhausalltag bis ins Detail.
Führer: … und bei dem letzten Buch, bei der letzten Nominierten, haben wir das auch, Anna Weidenholzer nämlich, "Der Winter tut den Fischen gut" heißt der Romantitel.
März: Ja, ein sehr schöner, auch experimenteller Roman über ein ganz unspektakuläres ödes Thema, nämlich eine österreichische Boutiquenbesitzerin, die arbeitslos wird, eine Frau in der Lebensmitte. Ihr Leben ist eigentlich in gewisser Weise zu Ende, und aus diesem wirklich grauen Stoff macht die Anna Weidenholzer tolle Literatur in experimenteller Weise, indem sie, und das finde ich irrsinnig interessant, die Biografie von hinten nach vorne erzählt. Eine Kleinigkeit – ich weiß, Sie drücken auf die Tube – will ich noch sagen: Gleichberechtigung heißt für Frauen nicht nur Freiheiten, sondern auch Pflichten. In der Literatur heißt es, die Frauen müssen sich auch mal als komische Sonderlinge darstellen lassen mit Marotten. Und diese Heldin ist ein weiblicher Sonderling mit wahnsinnig komischen Marotten.
Aguigah: Eine Sonderlingin.
März: Wenn man so will, genau.
Führer: Eines fällt ja auf jeden Fall auf bei diesen fünf Nominierten, darunter sind sehr viele Junge, also zwei Debüts auch …
März: Ein Debüt, das täuscht: Nur Dohrmann hat ein Debüt geschrieben. Das andere sind, wenn ich Sie unterbrechen darf – da haben Sie insofern Recht, es sind auffallend wenig ganz und gar arrivierte Schriftsteller dabei, eigentlich nur David Wagner, das haben Sie vielleicht gemeint. Aber es gibt nur ein wirkliches Debüt.
Führer: Okay, ich dachte, es wäre auch der erste Roman von Anna Weidenholzer, "Der Winter tut den Fischen gut", aber dann habe ich mich da vertan. Zwei Autoren sind zumindest noch keine 30 Jahre alt, und man fragt sich so ein bisschen, ja, wo bleiben denn, abgesehen von David Wagner und vielleicht Birk Meinhardt, die Alten, die Etablierten, wo bleibt Michael Köhlmeier zum Beispiel?
März: Michael Köhlmeier, wo er bleibt, kann ich da Ihnen jetzt nur sagen, er ist nicht auf der Short List. Das hat Gründe, die natürlich auf die intensiven Diskussionen in der Jury zurückgehen, nun muss ich Ihnen aber auch mal sagen: Ich finde 30 Jahre so wahnsinnig jung für einen Schriftsteller auch wieder nicht. Also die "Buddenbrooks" von Thomas Mann geschrieben wurden, da war er Mitte 20. Vielleicht noch einen Satz, ich habe vor zwei Stunden eine E-Mail aus Leipzig bekommen mit dieser Short List, da habe ich sie plötzlich wie einen Fremdkörper gesehen, obwohl ich an ihr mitdiskutiert habe, und habe mich genau darüber wahnsinnig gefreut.
Führer: Denn Ursula März gehört zur Jury für den Leipziger Buchpreis, für den Preis der Leipziger Buchmesse, genauso wie René Aguigah, und wir sprechen über die Short List, über die Nominierten, und kommen jetzt mal zu den Sachbüchern. Götz Aly, "Die Belasteten – Euthanasie 1939-45" macht alphabetisch den Anfang auf dieser Liste. Der Titel sagt ja schon klar, worum es geht.
Aguigah: Der Titel sagt klar, worum es geht – vielleicht ein Satz noch praktisch zum Ende der Literatur oder Belletristik und zu Götz Aly: Ich finde das eigentlich ganz schön, dass die Jury oder diese drei Listen, dass die bei der Literatur auch ein paar Autoren und Bücher nach vorne stellen, die eben noch nicht so wahnsinnig überall bekannt sind. Bei den Sachbüchern ist es ein bisschen anders, da gibt es zwei, drei Autoren dabei, die sind ganz gut bekannt, einer davon ist Götz Aly.
Götz Aly ist, glaube ich, der Beweis dafür, dass man aus der nationalsozialistischen Zeit immer noch Kapitel erzählen kann, die erstens noch nicht so gut bekannt sind, und zweitens auch tatsächlich neu darüber sprechen kann. Bei den "Belasteten" geht es um das, was man so als Euthanasie bezeichnet, also das heißt, um den Mord an Menschen, auch an Deutschen, oder nicht zuletzt an Deutschen, die als psychisch krank galten, oder als irgendwie verrückt galten, manchmal auch nur als aufsässig galten oder als erblich belastet galten. 200.000 Deutsche sind ungefähr so in sechs Jahren umgekommen, und Götz Aly erzählt das – zwei Besonderheiten sind dabei, die ich ganz kurz benennen will.
Das eine ist, Aly ist einer der ersten Historiker, die überhaupt sich mit dem Thema beschäftigt haben, das heißt, dieses Buch ist über 30 Jahre hinweg gewachsen, und das Zweite ist, er verbirgt nicht, dass er persönlich betroffen ist. Er hat eine behinderte Tochter, und man spürt einfach in dem Buch das Engagement.
Führer: Jetzt haben wir noch zwei Minuten für die vier weiteren Titel, Herr Aguigah. Kurt Bayertz, "Der aufrechte Gang", einer der bekannteren auch auf dieser Liste.
Aguigah: "Der aufrechte Gang" ist die Wiederbelebung einer philosophischen Disziplin namens Anthropologie. Anhand des Umstandes, dass wir Menschen auf zwei Beinen durch die Gegend laufen, wird da die Geschichte eines Menschenbilds entfaltet.
März: Ein ganz spannendes Buch.
Aguigah: Exzellent …
März: Akademisch und spannend zu lesen.
Aguigah: Exzellent geschrieben. Hans Belting hat ein Buch unter dem Titel "Faces" geschrieben, Kulturgeschichte des Gesichts. Kaum was ist relevanter, denn wir sind umgeben von Gesichtern, von Masken in der Antike bis zu Facebook heutzutage. Da findet man die Kulturgeschichte dieses Umstandes.
Helmut Böttiger, viertens, hat ein Buch geschrieben über die Gruppe 47, das Buch lässt sich beschreiben mit einem einzigen Adjektiv – das ist "überfällig". Endlich eine Geschichte über die Gruppe 47, die den Literaturbetrieb der Bundesrepublik geprägt hat wie nichts anderes.
Schließlich ein Buch mit dem relevantesten Thema überhaupt, auch das kann ich nur ans Herz legen: Wolfgang Streeck heißt der Autor, der schöne Titel "Gekaufte Zeit", und da geht es um die Fiskal- und Finanzkrise, das heißt, etwas, das unsere Gegenwart genau jetzt prägt wie nichts anderes, nicht nur Politik, sondern tatsächlich auch unsere Alltagsleben. In diesem Buch findet man eine gediegene Analyse nicht nur der Wurzeln der Finanzkrise, sondern auch der Theorien darüber.
Führer: Einen Satz noch zu den Nominierten im Bereich Sachbuch, Herr Aguigah: Was ja auffällt, es sind sehr viele Akademiker da drunter, drei reguläre Universitätsprofessoren, mit Götz Aly dreieinhalb, Helmut Böttiger ist der einzige, der ausfällt. Und ganz anders als bei der Literatur, wo die Jungen – also entschuldigen Sie, Frau März, 30 finde ich jetzt doch noch jung –, das Feld ein bisschen dominieren …
März: Von uns aus gesehen …
Führer: … ist ja hier Helmut Böttiger mit Mitte 50 der Jüngste. Das ist sozusagen der ganze Gegenentwurf.
Aguigah: Interessante Beobachtung. Ich möchte jetzt gar nicht allzu lang kommentieren – darf ich ja auch nicht –, aber vielleicht einen Satz dazu: In der Literatur, da gucken wir ein bisschen nach experimentellen und neuen Wegen, und im Sachbuch haben wir geballte Weisheit zusammengestrickt.
Führer: Das waren René Aguigah, und Ursula März, Mitglieder der Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse, der in vier Wochen bekanntgegeben und verliehen wird. Und jetzt sind wir gar nicht mehr zu den Übersetzungen gekommen, aber trösten Sie sich, darüber wird dann heute Abend noch in unserer Sendung "Fazit" gesprochen, ab 23 Uhr, da geht es auch um die Nominierten für Belletristik, Sachbuch und eben auch für Übersetzung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ursula März: Guten Tag!
Führer: Und außerdem meinen Kollegen René Aguigah, hier im Deutschlandradio Kultur Abteilungsleiter Kultur und Gesellschaft. Guten Tag, Herr Aguigah!
René Aguigah: Hallo, guten Tag!
Führer: Ja, ich würde vorschlagen, wir beginnen mal mit der Literatur, gehen mal ein bisschen alphabetisch vor, so viel Zeit haben wir nicht, so eine Kurzvorstellung. Aber Frau März: Ralph Dohrmann, "Kronhardt" heißt der Roman, ein richtig dicker Schinken.
März: Und ein dickes Debüt, dass finde ich ganz erstaunlich. Es sind 900 Seiten, es liest sich in der Tat nicht wie ein Debüt, aber ich denke, Ralph Dohrmann ist 1963 geboren, also so jung auch wieder nicht. Interessant daran: Es ist in gewisser Weise eine Antwort auf die "Buddenbrooks", nämlich die Geschichte einer Bremer Stickerei-Manufaktur. Der Erbe, der Wilhelm, ist allerdings sehr viel jünger, in den 50er-Jahren geboren. Ein riesiges Sippengemälde auch durch die Bundesrepublik, sehr spröde, interessant geschrieben. Ja, um im Alphabet zu bleiben, …
Führer: Ja?
März: … nach Dohrmann kommt – das Alphabet sollte man ja beherrschen als Jurorin …
Führer: Lisa Kränzler habe ich da, "Nachhinein", das ist ein ganz anderer Roman.
März: Lisa Kränzler – etwas ganz Besonderes. Lisa Kränzler darf man tatsächlich als junge Autorin kennen, man hat sie in diesem Jahr in Klagenfurt gehört, da hat sie einen Auszug gelesen aus diesem sehr experimentellen, sprachlich und in der Reflexion sehr experimentellen Coming-of-Age-Roman. Es geht um zwei Freundinnen, deren Kindheit und Jugend erzählt wird, zwei sehr verschiedene Freundinnen, die eine bürgerlich, die andere proletarisch. Das Interessante daran finde ich, und das will ich auch schon mal summarisch als Tendenz für die ganze Belletristik-Shortlist sagen: In einer sehr avantgardistischen Schreibweise haben wir es hier mit sozialer Realität durchaus zu tun.
Führer: Wir hatten vorhin die Antwort auf die "Buddenbrooks" – ich drücke ein bisschen auf die Tube, wie Sie merken –, jetzt haben wir die Antwort auf den "Turm", nämlich von Birk Meinhardt, "Brüder und Schwestern".
März: Genau, ja, ein sogenannte DDR-Roman, ein komischer Begriff, aber man weiß um was es geht. Er spielt zwischen den 70er-Jahren bis zur Wende, auch ein Wälzer, 700 Seiten, eben in gewisser Weise eine Antwort auf den "Turm", weil wir es hier nicht mit dem Großbürgertum, dem Bildungsbürgertun zu tun haben, sondern mit sogenannten kleinen Leuten. Ein sehr barock-ausführlicher Roman mit vielen Dialogen, vielen verschiedenen Figuren und auch Sonderlingen – also wir kommen ins Zirkusmilieu, wir kommen ins Milieu der Flussschiffer, und wenn ich es richtig verstanden habe, wird Birk Meinhardt daran noch weiterschreiben.
Führer: Dann kommen wir zu einem sehr bekannten Autor, wo man gar nicht weiß, ist das jetzt wirklich so ein Roman: David Wagner, "Leben", da geht es um Organtransplantationen …
März: Tja, ist das ein Roman, ist es ein Sachbuch …
Aguigah: Ich habe zumindest ganz kurz mal … Ich habe ja mitgelesen auch die Sachen, obwohl ich mich professionell mehr mit Non-Fiction-Literatur beschäftige. Und bei David Wagner, da besteht immer die schöne Gefahr während des Lesens, dass man kurz denkt, der Autor erzählt tatsächlich einfach sein eigenes Leben runter, so seine Krankheitsgeschichte. Es geht um eine schwere Erkrankung der Leber – das müssen Sie, Ursula März, gleich noch mal in zwei Sätzen besser sagen –, und da besteht immer ein bisschen die Gefahr, dass man denkt, man hätte es mit einer wahren Geschichte zu tun. Das kann aber ja wohl nicht wahr sein.
März: Doch, das ist in diesem Fall tatsächlich wahr, also es sollte uns für belletristische Literatur eigentlich egal sein, ob es erfahren ist. Es ist aber so, es ist die Geschichte einer Organtransplantation, der Ich-Erzähler – man könnte ihn auch fast als einen Tagebuch-Schreiber bezeichnen –, der sozusagen alles wahrnimmt, was er im Zwischenreich zwischen Leben und Tod im Krankenhaus erfährt, erhält eine neue Leber, die er dringend braucht, sonst würde er sterben, und das ist tatsächlich auch die Geschichte von David Wagner. Finde ich persönlich aber für die Dringlichkeit, für die große Kunst der Leichtigkeit, mit der hier die schwierigsten Themen des Lebens, nämlich die des Todes und der Todesnähe behandelt werden, fast gleichgültig.
Führer: Soziale Fragen haben Sie vorhin schon erwähnt Frau März …
März: Hier haben wir die natürlich auch: Krankenhausalltag bis ins Detail.
Führer: … und bei dem letzten Buch, bei der letzten Nominierten, haben wir das auch, Anna Weidenholzer nämlich, "Der Winter tut den Fischen gut" heißt der Romantitel.
März: Ja, ein sehr schöner, auch experimenteller Roman über ein ganz unspektakuläres ödes Thema, nämlich eine österreichische Boutiquenbesitzerin, die arbeitslos wird, eine Frau in der Lebensmitte. Ihr Leben ist eigentlich in gewisser Weise zu Ende, und aus diesem wirklich grauen Stoff macht die Anna Weidenholzer tolle Literatur in experimenteller Weise, indem sie, und das finde ich irrsinnig interessant, die Biografie von hinten nach vorne erzählt. Eine Kleinigkeit – ich weiß, Sie drücken auf die Tube – will ich noch sagen: Gleichberechtigung heißt für Frauen nicht nur Freiheiten, sondern auch Pflichten. In der Literatur heißt es, die Frauen müssen sich auch mal als komische Sonderlinge darstellen lassen mit Marotten. Und diese Heldin ist ein weiblicher Sonderling mit wahnsinnig komischen Marotten.
Aguigah: Eine Sonderlingin.
März: Wenn man so will, genau.
Führer: Eines fällt ja auf jeden Fall auf bei diesen fünf Nominierten, darunter sind sehr viele Junge, also zwei Debüts auch …
März: Ein Debüt, das täuscht: Nur Dohrmann hat ein Debüt geschrieben. Das andere sind, wenn ich Sie unterbrechen darf – da haben Sie insofern Recht, es sind auffallend wenig ganz und gar arrivierte Schriftsteller dabei, eigentlich nur David Wagner, das haben Sie vielleicht gemeint. Aber es gibt nur ein wirkliches Debüt.
Führer: Okay, ich dachte, es wäre auch der erste Roman von Anna Weidenholzer, "Der Winter tut den Fischen gut", aber dann habe ich mich da vertan. Zwei Autoren sind zumindest noch keine 30 Jahre alt, und man fragt sich so ein bisschen, ja, wo bleiben denn, abgesehen von David Wagner und vielleicht Birk Meinhardt, die Alten, die Etablierten, wo bleibt Michael Köhlmeier zum Beispiel?
März: Michael Köhlmeier, wo er bleibt, kann ich da Ihnen jetzt nur sagen, er ist nicht auf der Short List. Das hat Gründe, die natürlich auf die intensiven Diskussionen in der Jury zurückgehen, nun muss ich Ihnen aber auch mal sagen: Ich finde 30 Jahre so wahnsinnig jung für einen Schriftsteller auch wieder nicht. Also die "Buddenbrooks" von Thomas Mann geschrieben wurden, da war er Mitte 20. Vielleicht noch einen Satz, ich habe vor zwei Stunden eine E-Mail aus Leipzig bekommen mit dieser Short List, da habe ich sie plötzlich wie einen Fremdkörper gesehen, obwohl ich an ihr mitdiskutiert habe, und habe mich genau darüber wahnsinnig gefreut.
Führer: Denn Ursula März gehört zur Jury für den Leipziger Buchpreis, für den Preis der Leipziger Buchmesse, genauso wie René Aguigah, und wir sprechen über die Short List, über die Nominierten, und kommen jetzt mal zu den Sachbüchern. Götz Aly, "Die Belasteten – Euthanasie 1939-45" macht alphabetisch den Anfang auf dieser Liste. Der Titel sagt ja schon klar, worum es geht.
Aguigah: Der Titel sagt klar, worum es geht – vielleicht ein Satz noch praktisch zum Ende der Literatur oder Belletristik und zu Götz Aly: Ich finde das eigentlich ganz schön, dass die Jury oder diese drei Listen, dass die bei der Literatur auch ein paar Autoren und Bücher nach vorne stellen, die eben noch nicht so wahnsinnig überall bekannt sind. Bei den Sachbüchern ist es ein bisschen anders, da gibt es zwei, drei Autoren dabei, die sind ganz gut bekannt, einer davon ist Götz Aly.
Götz Aly ist, glaube ich, der Beweis dafür, dass man aus der nationalsozialistischen Zeit immer noch Kapitel erzählen kann, die erstens noch nicht so gut bekannt sind, und zweitens auch tatsächlich neu darüber sprechen kann. Bei den "Belasteten" geht es um das, was man so als Euthanasie bezeichnet, also das heißt, um den Mord an Menschen, auch an Deutschen, oder nicht zuletzt an Deutschen, die als psychisch krank galten, oder als irgendwie verrückt galten, manchmal auch nur als aufsässig galten oder als erblich belastet galten. 200.000 Deutsche sind ungefähr so in sechs Jahren umgekommen, und Götz Aly erzählt das – zwei Besonderheiten sind dabei, die ich ganz kurz benennen will.
Das eine ist, Aly ist einer der ersten Historiker, die überhaupt sich mit dem Thema beschäftigt haben, das heißt, dieses Buch ist über 30 Jahre hinweg gewachsen, und das Zweite ist, er verbirgt nicht, dass er persönlich betroffen ist. Er hat eine behinderte Tochter, und man spürt einfach in dem Buch das Engagement.
Führer: Jetzt haben wir noch zwei Minuten für die vier weiteren Titel, Herr Aguigah. Kurt Bayertz, "Der aufrechte Gang", einer der bekannteren auch auf dieser Liste.
Aguigah: "Der aufrechte Gang" ist die Wiederbelebung einer philosophischen Disziplin namens Anthropologie. Anhand des Umstandes, dass wir Menschen auf zwei Beinen durch die Gegend laufen, wird da die Geschichte eines Menschenbilds entfaltet.
März: Ein ganz spannendes Buch.
Aguigah: Exzellent …
März: Akademisch und spannend zu lesen.
Aguigah: Exzellent geschrieben. Hans Belting hat ein Buch unter dem Titel "Faces" geschrieben, Kulturgeschichte des Gesichts. Kaum was ist relevanter, denn wir sind umgeben von Gesichtern, von Masken in der Antike bis zu Facebook heutzutage. Da findet man die Kulturgeschichte dieses Umstandes.
Helmut Böttiger, viertens, hat ein Buch geschrieben über die Gruppe 47, das Buch lässt sich beschreiben mit einem einzigen Adjektiv – das ist "überfällig". Endlich eine Geschichte über die Gruppe 47, die den Literaturbetrieb der Bundesrepublik geprägt hat wie nichts anderes.
Schließlich ein Buch mit dem relevantesten Thema überhaupt, auch das kann ich nur ans Herz legen: Wolfgang Streeck heißt der Autor, der schöne Titel "Gekaufte Zeit", und da geht es um die Fiskal- und Finanzkrise, das heißt, etwas, das unsere Gegenwart genau jetzt prägt wie nichts anderes, nicht nur Politik, sondern tatsächlich auch unsere Alltagsleben. In diesem Buch findet man eine gediegene Analyse nicht nur der Wurzeln der Finanzkrise, sondern auch der Theorien darüber.
Führer: Einen Satz noch zu den Nominierten im Bereich Sachbuch, Herr Aguigah: Was ja auffällt, es sind sehr viele Akademiker da drunter, drei reguläre Universitätsprofessoren, mit Götz Aly dreieinhalb, Helmut Böttiger ist der einzige, der ausfällt. Und ganz anders als bei der Literatur, wo die Jungen – also entschuldigen Sie, Frau März, 30 finde ich jetzt doch noch jung –, das Feld ein bisschen dominieren …
März: Von uns aus gesehen …
Führer: … ist ja hier Helmut Böttiger mit Mitte 50 der Jüngste. Das ist sozusagen der ganze Gegenentwurf.
Aguigah: Interessante Beobachtung. Ich möchte jetzt gar nicht allzu lang kommentieren – darf ich ja auch nicht –, aber vielleicht einen Satz dazu: In der Literatur, da gucken wir ein bisschen nach experimentellen und neuen Wegen, und im Sachbuch haben wir geballte Weisheit zusammengestrickt.
Führer: Das waren René Aguigah, und Ursula März, Mitglieder der Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse, der in vier Wochen bekanntgegeben und verliehen wird. Und jetzt sind wir gar nicht mehr zu den Übersetzungen gekommen, aber trösten Sie sich, darüber wird dann heute Abend noch in unserer Sendung "Fazit" gesprochen, ab 23 Uhr, da geht es auch um die Nominierten für Belletristik, Sachbuch und eben auch für Übersetzung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.