Ein biedermeierliches Wohlstandsproblem
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Das Coronajahr war auch das Jahr des Aufräumens und Ausmistens. Unterhosen wurden farblich sortiert, stets galt: Was man nicht liebt, kommt weg. Einen so unerbittlichen Umgang mit den Dingen muss man sich leisten können, merkt unsere Autorin an.
Seit die Japanerin Marie Kondo der Welt beizubringen versucht, wie eine ordentliche Wohnung auszusehen hat, gelten Aufräumen und Entrümpeln als neue Lifestyle-Mantren. Bereits im Frühling, als der erste Lockdown eigentlich genügend andere Probleme mit sich brachte, erzählte einem ständig jemand, was er oder sie alles entrümpelt und verschenkt hat und wie frei man sich als neu geborener Minimalist fühle.
Aufräumberatung für 2.500 Euro
Statt über die ökonomischen und kulturellen Folgen des Virus, den Klimawandel oder die Krise der Europäischen Union zu debattieren, erklären erwachsene Menschen ernsthaft, wie viel Lebensqualität sie gewonnen haben, seit sie ihre Unterhosen nach Farben sortieren, wie es die beiden US-Amerikanerinnen Joanna Sheplin und Clea Shearer in ihrer erfolgreichen Netflix-Serie "Get organized" propagieren. Darin kreischen gestandene Frauen wie euphorische Teenager in Anbetracht des Schuh- und Kleiderchaos, das sie beseitigen sollen, immerhin kassieren sie auch 250 Dollar pro Stunde dafür, dass sie in Garagen oder Schlafzimmer einfallen, das Meiste wegwerfen und den kargen Rest nach dem Malkastenprinzip sortieren. Bei Marie Kondo muss man für eine zweitägige Intensivberatung rund 2.500 Euro hinblättern, plus Reisekosten für die Beraterin.
Seit Aufräumen und Putzen zu derart exklusiven Angelegenheiten geworden sind, gelten sie auch nicht mehr als spießig. Aussortieren und wegwerfen sind zu Wohlstandsproblemen geworden, die man sich leisten können muss, auch im mentalen Sinn. Denn die Aufräum-Feen raten eiskalt lächelnd zu einem unerbittlichen, eindeutigen Umgang mit Dingen: Was man nicht liebt, muss weg, emotionale Grau- und Zwischentöne kommen nicht vor.
Mal über den Rand des Putzeimers schauen
Dass unser Verhältnis zu den Dingen, die uns umgeben, häufig zwiespältig ist, dass Dinge eine Geschichte haben oder uns mit längst vergangenen Zeiten verbinden, ist in einem derart rigorosen System nicht vorgesehen. Mal abgesehen davon, dass es völliger Unsinn ist, zu glauben, nur in einer geordneten Umgebung könnten klare Gedanken entstehen. Wer das denkt, sollte sich mal eine Fotografie des legendär chaotischen Arbeitszimmers der großen österreichischen Lyrikerin Friederike Mayröcker ansehen.
Sicher ist es nicht schlecht, hin und wieder mal aufzuräumen, solange man bei all dem Sortieren, Saubermachen und sich auf diese recht biedermeierliche Weise mit sich selbst beschäftigen noch im Blick behält, dass es jenseits des eigenen Putzeimerrands auch noch Einiges gibt, was mal aufgeräumt beziehungsweise optimiert werden sollte – ob das der Park nebenan, das Schulhaus, der Umweltschutz oder unser gesellschaftspolitisches Engagement ist.