Stephan Bierling
Vormacht wider Willen
Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart
C.H.Beck Verlag
303 Seiten, 16,95 Euro (als Ebook 13,99 Euro)
Deutschland macht sich kleiner als es ist
In "Vormacht wider Willen" analysiert der Politologe Stephan Bierling die deutsche Außenpolitik nach der Wiedervereinigung - und kommt zu dem Schluss: Das Land scheut das Risiko und vernachlässigt seine Pflichten. Doch ist daran etwas auszusetzen?
Schuld war die politische Zeitenwende vor einem Vierteljahrhundert: Ein vergrößertes Deutschland in einem umgestalteten Europa musste die Grundlinien seiner Außenpolitik neu justieren. Wie es das anstellte und was daraus wurde, schildert Stephan Bierling auf rund 300 Seiten.
Seine Untersuchung gliedert sich in drei Teile, angelehnt an die etwa gleich langen Zeitspannen der Kanzlerschaften Kohls nach dem Ende der deutschen Teilung, Schröders und Merkels. Dafür spricht ein plausibler Grund: Im größeren Deutschland haben sich die außenpolitischen Weichenstellungen stetig verlagert – weg vom Fachminister, hin zum Regierungschef. Damit waren verständlicherweise nicht alle Amtsträger glücklich, am wenigsten Joschka Fischer, dessen europapolitische Vorstellungen kaum Anklang fanden.
"Wie sein Vorgänger musste auch dieser Außenminister erfahren, dass die Bedeutung seines Ressorts in der Nach-Genscher-Zeit zusammenschmolz und sich außenpolitische Macht im Kanzleramt konzentrierte."
Innerhalb der drei Hauptkapitel des Buches werden die einzelnen Politikfelder systematisch, nicht chronologisch abgeschritten. Den Anfang macht jeweils die Sicherheitspolitik. Die wirtschafts- und europapolitischen Entwicklungen schließen sich an. Wichtige Themen bilateraler Beziehungen zu ausgewählten Ländern oder Regionen bilden den Schluss.
Zeitgeschichte interpretieren und einordnen
Natürlich will der Autor deutsche Zeitgeschichte nicht einfach referieren, sondern auch interpretieren und einordnen. Was ihm am meisten missfällt an der Außenpolitik des wiedervereinigten Deutschland lässt sich prägnanter kaum ausdrücken als es der Buchtitel tut: Vormacht wider Willen. Deutschland begnüge sich, schreibt Bierling, mit der Rolle der Auch-dabei-Macht, die...
"...kein eigenständiges Profil entwickelte und sich drängenden Herausforderungen eher verweigerte als sie aktiv anzunehmen. Damit war (...) unklarer denn je, ob die größte Nation Europas ihrer internationalen Verantwortung gerecht werden würde."
Heißen soll das: Die Bundesrepublik macht sich kleiner als sie ist. Sie vernachlässigt ihre Pflichten und sie enttäuscht die Erwartungen von Partnern und Verbündeten.
Gleich im ersten Satz des Buches kommt für die zentrale These ein eher bizarrer Kronzeuge zu Wort. Radoslaw Sikorski, bis vor wenigen Wochen polnischer Außenminister, klagte in einem Vortrag in Berlin:
"Ich fürchte deutsche Macht weniger als ich deutsche Untätigkeit zu fürchten beginne. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen nicht versagen zu führen."
Das war im Herbst 2011. Die Mahnung zielte auf die deutsche Weigerung, am Luftkrieg gegen Libyen teilzunehmen. Zum zweiten Mal wie schon acht Jahre zuvor im Fall Irak hatte sich eine deutsche Regierung dem Ruf zu den Waffen entzogen. Für Bierlin lagen beiden Entscheidungen, die er missbilligt, vor allem wahltaktische Motive zugrunde.
Rückkehr in "die erste diplomatische Riege"
Keine Sympathie hegt er folglich für militärkritische Stimmen in der öffentlichen Debatte, die immer noch einer Politik der Zurückhaltung das Wort reden. So heißt es z.B. mit Blick auf den Kriegsschauplatz am Hindukusch:
"Noch über viele Jahre hielt fast die gesamte politische Klasse in Deutschland daran fest, Afghanistan sei primär mit Instrumenten der Entwicklungshilfe und Polizei zu stabilisieren. Dies sollte sich als Trugschluss erweisen."
Wohl wahr. Aber unerörtert bleibt, um wieviel enttäuschender, kostspieliger und opferreicher der Versuch ausfiel, Afghanistan mit Waffenmacht zu stabilisieren. Zu befürchten ist: Auch im vierzehnten Kriegsjahr wird die afghanische Tragödie kein Ende nehmen.
In freundlicherem Licht erscheint hingegen der Kosovokrieg vom Sommer 1999, der selbst NATO-intern weder als Glanzleistung noch als Erfolgsgeschichte gilt. Für Bierling bedeutet er die Rückkehr der Bundesrepublik "in die erste diplomatische Riege der europäischen Mächte". Ein ähnlich markiges Fazit ist von einem anderen Zeitzeugen überliefert. George Robertson, damals NATO-Generalsekretär, bejubelte das Ende der quälenden Operation mit dem Ausruf: "Lektion eins ist kristallklar: Wir haben gesiegt."
Na großartig: Der mächtigste Militärapparat der Geschichte mit fast halb so viel Soldaten unter Waffen, wie überhaupt Serben in Serbien leben, bezwang einen Kleinstaat. Dazu brauchte er 78 Tage Dauerfeuer in 38.000 Lufteinsätzen mit Bomben und Raketen auf Straßen, Brücken, Fabriken, Raffinerien, Rundfunksender – sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag.
Was spricht gegen friedliche Sicherheitsvorsorge?
Dass schließlich in der elften Kriegswoche Milosevic die weiße Fahne hisste, lieh ihm noch die Gloriole eines verantwortungsbewussten Staatsmanns. Denn, so ihr Oberbefehlshaber Wesley Clark, "sonst hätte die NATO weitergebombt, seine Infrastruktur pulverisiert. Wir hätten die Nahrungsmittelindustrie zerstört, die Kraftwerke. Wir hätten alles getan, was nötig gewesen wäre". So sah es aus, das alte Kriegsbild, für das lediglich ein neues Etikett erfunden wurde: die humanitäre Intervention.
"Kurzum:", so resümiert Bierling die aktuelle Situation, "Deutschland ist ein risikoscheuer, post-militärischer Handelsstaat, der sich auf die EU konzentriert, friedliche Mittel der Krisenbewältigung präferiert und Führungsaufgaben ablehnt."
Na und? Selbst wenn man die Diagnose teilen wollte – was wäre daran auszusetzen? Verdienen Nationen nicht Lob, die ihre militärisch-militaristische Vergangenheit abgestreift haben? Ist der Typus des zivilen Handelsstaates, der auf kooperative Konfliktlösungen setzt, nicht moralisch allemal im Vorteil gegenüber Vor- und Führungsmächten, deren Nachbarn um ihr Recht auf Selbstbestimmung bangen müssen? Und was spricht gegen friedliche statt gewaltsamer Mittel der Sicherheitsvorsorge?
Das Buch beansprucht nicht, zur Theoriediskussion beizutragen. Vielmehr will es die Leser ermuntern, sich selbst ein Urteil zu bilden. Dazu sollte man es beglückwünschen.