Vorsicht, Funkenflug!
Mit der Krim-Krise hat sich in rasender Geschwindigkeit in Politik und Öffentlichkeit ein dominantes Meinungsbild über Russland formiert, sagt der Hamburger Friedensforscher Reinhard Mutz: ein Meinungsbild frei von Nuancen und Schattierungen.
Die Kremlführung sitzt auf der Anklagebank: Russland gilt als neoimperiale Großmacht, die auch vor Gewaltmitteln nicht zurückschreckt. Als Beispiel muss die Krise um Georgien und Südossetien herhalten. Doch dieser Fall kann die These vom Aggressor nicht stützen: Es war das erste und bisher einzige Mal seit Auflösung der Sowjetunion, dass russische Soldaten ihren Fuß auf fremdes Territorium setzten. Wie oft haben westliche Staaten in derselben Zeit auf Konfliktschauplätzen militärisch interveniert, legal oder illegal?
Damals beruhte die Anwesenheit russischer Truppen in der von Georgien abgefallenen Provinz Südossetien auf einem Waffenstillstandsabkommen. Boris Jelzin und Eduard Schewardnadse hatten es 1992 unterschrieben, vermittelt und mitgezeichnet durch die OSZE. Der Auftrag an das russische Oberkommando lautete, die Waffenruhe zu kontrollieren.
Andere bewaffnete Formationen sollten sich nicht im Vertragsgebiet aufhalten dürfen. Im August 2008 aber drangen georgische Streitkräfte in Südossetien ein und eroberten die Hauptstadt. Am Folgetag einmarschierende russische Truppen schlugen sie zurück. Diesen Hergang bestätigte ein Jahr später ein Untersuchungsbericht der Europäischen Union. Von einer rechtswidrigen Aggression kann keine Rede sein.
Abgewirtschaftetes Haus Jelzins in Ordnung gebracht
Heute wählt Wladimir Putin oft eine konfrontative Sprache, doch für einen Aggressor halten ihn die meisten Russen nicht. In ihren Augen hat er das abgewirtschaftete Haus Jelzins wieder in Ordnung gebracht. Die robusten Methoden, etwa bei der politischen Entmachtung der Oligarchen, vermochten seine Popularität nicht zu schmälern.
Als er das Präsidentenamt verließ, war das Land schuldenfrei. Es verfügte über stattliche Devisenreserven, zog wieder ausländische Inverstoren an und sitzt auf Energievorräten, um die es in der Welt beneidet wird.
Kann es verwundern, wenn die Konsolidierung im Inneren auch außenpolitische Wirkungen zeitigt? Nicht dass frühere Moskauer Machthaber westliche Affronts klaglos schlucken mochten. Die nach Osten expandierende NATO, so hatte schon 1995 ein aufgebrachter Jelzin gepoltert, werde die Flamme des Krieges neu entfachen. Niemand nahm ihn ernst – warum auch: Wer die Hand aufhalten muss, kann schlecht die Faust ballen. Erst seinem Nachfolger gelang, die Rolle des ohnmächtigen Bittstellers abzustreifen.
Europa ohne Einflusssphären?
Unübersehbar orientiert sich die russische Außenpolitik neu. Zu oft fühlt sie sich vom Westen hintergangen. Hatte nach dem Mauerfall die Charta von Paris dem Feind von gestern nicht ein Zeitalter der Einheit und gleichen Sicherheit versprochen? Mehr als eine Fußnote der Geschichte ist nicht daraus geworden.
Als der Westen an die Neuordnung des Balkans ging, beschied er Moskau mit der Formel: Mitwirkung ja, Mitsprache nein. Die NATO-Russland-Akte von 1997 beschwor noch einmal den gemeinsamen Sicherheits- und Stabilitätsraum Europa ohne Trennlinien und Einflusssphären.
Zwei Jahre später begrüßte die westliche Allianz ihre ersten neuen Mitglieder. Inzwischen sind es zwölf, davon sechs frühere Verbündete der UdSSR und drei ehemalige Sowjetrepubliken. Europa ohne Einflusssphären?
Sicherheit ist das Kernanliegen jedes Staates gegenüber seiner Umwelt. Hier wird er am wenigsten zu Konzessionen bereit sein, es sei denn verhandelt und vereinbart auf Gegenseitigkeit. Das gilt für den Westen wie für Russland wie für die Ukraine.
Niemand braucht einen neuen Krieg
Im Budapester Memorandum vom Dezember 1994 haben sich die USA, Russland und Großbritannien verpflichtet, die politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine zu gewährleisten. Die sechste und letzte Ziffer des Dokuments ist jetzt die dringlichste. Sie lautet: Die Vertragsparteien "werden miteinander beraten, sobald eine Streitfrage auftritt, die diese Verpflichtungen betrifft".
Der dreijährige Krieg, der den Namen der umstrittenen Halbinsel im Schwarzen Meer trägt, war der blutigste und opferreichste Waffengang im Europa des 19. Jahrhunderts. Niemand braucht eine Neuauflage.
Dr. Reinhard Mutz, Jahrgang 1938, studierte nach dreijährigem Militärdienst Politikwissenschaft und Neuere Geschichte. Er arbeitete bis 1984 am Institut für internationale Politik und Regionalstudien der Freien Universität Berlin und bis 2006 am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, zuletzt als Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor. Von 1992 bis 2008 war er Mitherausgeber des Jahresgutachtens der friedenswissenschaftlichen Forschungsinstitute in der Bundesrepublik.