Hören Sie eine Wiederholung vom 18.12.2016.
Abseits der Welt
"Es ist hier wie vor 100 Jahren" − im spanischen Dorf Matavenero wohnen 70 Menschen, die aus dem starren Korsett der Zivilisation ausbrechen wollen. Sie verzichten auf Heizung, fließendes Wasser und Krankenversicherung. Dafür leben sie naturverbunden und basisdemokratisch.
"Das ist quasi unsere Ropa Común, also die Kleidung, der Verschenk-Laden von Kleidung. Und dann haben wir noch hier in den ganzen Sachen verschiedenste Produkte. Das sind alles Produkte von Leuten, die Öko-Sachen machen, aus der Umgebung. Die haben alles. Da kaufen wir dann, weiß nicht, 20 Kilo Sonnenblumenkerne, 20 Kilo Haferflocken, und verteilen das dann hier im Laden quasi."
Es ist ein Freitagmorgen Anfang Mai, und ich bin zu Besuch im spanischen Öko- und Aussteigerdorf Matavenero. Marek ist 35 Jahre alt und lebt seit drei Jahren hier. Er zeigt mir die Ropa Común, das ist die Kleiderkammer des Dorfes, und den Bioladen. In Holzregalen stapeln sich hier Babystrampler, T-Shirts, Hosen und Schuhe in allen Größen und Farben. Die Sachen wurden von Freunden der Bewohner oder von Touristen gespendet. Jeder, der hier lebt, darf sich von der Kleidung etwas nehmen. Neben den Regalen stehen große Einmachgläser mit Getreide, Nüssen und Sonnenblumenkernen. Der Laden ist so etwas wie der Supermarkt des Dorfes. Das nächste kommerzielle Geschäft ist etwa eine Autostunde von hier entfernt.
Marek: "Das ist halt die Bücherei hier, übelst viel deutsche Bücher, eigentlich fast nur. Hier so ein bisschen Spanisch und dahinten mal so ein bisschen Spanisch."
Bergarbeiter hinterließen Ruinen
Matavenero ist ein besonderes Dorf. Es liegt gut fünf Autostunden nördlich von Madrid auf etwa 1000 Metern Höhe. Vor 60 Jahren haben Arbeiter das Dorf verlassen, weil der Bergbau hier zu Ende ging. Heute sieht es von weitem aus wie ein idyllisches Bergdorf. Erst wenn man näherkommt, erkennt man, in welch kargen Verhältnissen die Menschen hier leben. Sie haben die Häuserruinen, die von den Bergarbeitern übrig geblieben sind, mit Holz und Wellblech zu Behausungen zusammengeflickt. Geheizt wird mit Holz, das die Bewohner im Wald sammeln. Die meisten hier sind nicht kranken- oder rentenversichert. Nur wenige der Bewohner haben Jobs. Auch Marek hat kein festes Einkommen. An ein bis zwei Tagen der Woche hilft er in der Bar aus:
"Ich bin Straßenmusiker. Ich geh halt auf die Straße hier in den umliegenden Städten und sing und habe zwischen acht und zwölf Euro die Stunde ungefähr. Dann geh ich einfach ein paar Stunden singen im Monat, und das reicht im Endeffekt. Ich brauche Minimum so zwei, drei, vier Stunden zum Verdienen. Und dann kauf ich ein, dann schlaf ich entweder in einer Ruine oder im Obdachlosenheim oder bei irgendwelchen Freunden und dann am nächsten Tag spiele ich noch ein bisschen. Und dann habe ich irgendwie vielleicht noch 30 Euro über und dann kann ich mir auch… also, meistens latsch ich dann und trampe und dann muss ich halt zum Teil, wenn es schlecht kommt, ungefähr 20 Kilometer latschen mit Einkauf. Aber das macht mich im Endeffekt auch fit."
Nach Matavenero gekommen ist Marek, weil seine Freundin sich entschieden hatte, mit ihrer gemeinsamen Tochter herzuziehen. Mittlerweile haben sie sich getrennt und Mareks Ex-Freundin ist mit der Tochter wieder nach Deutschland gegangen. Marek ist hier geblieben. Er hat hier eine Band, mit der er manchmal Videos dreht, die sie dann bei Youtube hochladen. Die Kameras und Mikros, die sie dafür brauchen, laufen mit Akkus, die Marek über Solarzellen auflädt. Auf einem alten Laptop zeigt er mir sein neustes Video:
"Musik, Marek, New Hits vielleicht? Ja. Das ist jetzt ganz, ganz, ganz aktuell. Das ist ungefähr eine Woche in Youtube. Und hier halt die Künstler…"
Marek: "Haste schon gesehen, neues Musikvideo?"
Bewohner: "Hast du mir gestern Abend gezeigt, oder?"
Marek: "Ja."
Marek: "Haste schon gesehen, neues Musikvideo?"
Bewohner: "Hast du mir gestern Abend gezeigt, oder?"
Marek: "Ja."
Auf mich macht das Leben in Matavenero einen sehr widersprüchlichen Eindruck. Einerseits haben einige Bewohner Laptops und Zugang zum Internet. Andererseits fehlen so grundlegende Dinge wie ärztliche Versorgung. Nur bei einem ernsthaften Notfall können die Bewohner einen Rettungshubschrauber rufen. Für den Transport von schweren Lasten haben sie sich eine Seilbahn zwischen zwei Bergen gebaut. Im Dorf selbst laufen drei Esel frei herum, die schwere Sachen transportieren können. Das Leben hier ist häufig wie vor 100 Jahren. Marek hat es bewusst gewählt:
"Naja, mein wichtigstes Ziel ist eigentlich, meinen ökologischen Fußabdruck zu verringern. Und das geht hier halt besser, als in der Stadt. Weil dadurch, dass wir halt in unsere Kompost-Toilets, also dadurch, dass wir nicht ans Wasser angeschlossen sind und dass wir nicht am Straßennetz angeschlossen sind und nicht am Stromnetz, die drei Faktoren alleine so, und dadurch haben wir sogar einen 70-prozentigen oder ungefähr 50 oder was weiß ich wie für eine Zahl, aber eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass unser ökologischer Fußabdruck kleiner ist, weil wir halt so weit außerhalb leben von allem."
Viele Bewohner sind aus dem System gefallen
Die meisten Mataveneros sagen wie Marek, dass sie in erster Linie aus Umweltschutzgründen hier leben. Wer ein paar Tage hier verbringt, merkt aber, dass das nicht der einzige Grund ist. Denn viele Bewohner sind auch aus dem System gefallen: Sie haben ihren Job verloren oder sind krank geworden und bewegen sich dadurch am Existenzminimum. Auch Marek hat sein Lehramtsstudium in Deutschland nie beendet.
Ein spanischer Bewohner lebt ganz ohne Geld und baut in seinem Garten alles an, was dort wächst. Braucht er eine Packung Kaffee, tauscht er sie gegen einen Kürbis. Er tauscht Tomaten gegen Seife oder Sellerie gegen Joghurt. Matavenero ist ein Platz, an dem man mit sehr wenig auskommen kann. Niemand hier zahlt Steuern, keiner musste sein Grundstück kaufen. Einfach ist das Leben aber trotzdem nicht.
Marek: "Man lebt wirklich miteinander. Man ist nicht: Der eine geht zum Arbeiten, der andere geht dahin, und dann sieht man sich nur drei Stunden am Tag. Hier hockt man einfach wirklich aufeinander so - und wenn es dann nicht funktioniert, merkt man es vielleicht auch einfach eher, als wenn man es in der Stadt merken würde. So seh ich das. Das Leben hier ist einfach intensiver miteinander. Zum Beispiel, du hast Stress mit den Nachbarn. Den siehst du jeden Tag. In der Stadt kannst du einfach den Freundeskreis wechseln, du gehst einfach in eine andere Kneipe. Du hast nichts mehr mit den Leuten zu tun, du musst diese Probleme nicht lösen. Es ist egal, hier siehste den Menschen einfach permanent und immer wieder. Ich find das irgendwie auch schön. Ich find das irgendwie besser."
Ich mache einen Rundgang durchs Dorf und komme am Gebirgsbach vorbei. Er ist die einzige Wasserquelle für die Bewohner. Sie trinken das Wasser, nutzen es zum Kochen, um sich selbst und ihre Kleidung zu waschen. Friert er im Winter zu, müssen sie das Eis in Töpfen auf dem Gasherd auftauen.
Vom Gebirgsbach mache ich einen Abstecher zu Jörn. Er ist 54 Jahre alt und stammt aus Deutschland. Jörn ist Ende der 80er, kurz nach der Wiederbesiedlung von Matavenero hergekommen und lebt seitdem meist von Januar bis Mai hier. In den nächsten Tagen will er nach Deutschland aufbrechen:
"Da muss ich jetzt einen Namen draufschreiben. Und das ist okay. Ein altes Brett, das machen wir auch hier runter. Was haben wir denn noch an langen Sachen? Die Leiter, die lassen wir da… Die kriegen wir hier hinten unter, das könnte mal noch weg."
Den Rest des Jahres verbringt Jörn in Deutschland und in der Schweiz. In Deutschland besucht er seine erwachsene Tochter und seine Mutter. In der Schweiz arbeitet er seit über 20 Jahren auf einer Alm und hütet Kühe oder Schafe. So richtig zufrieden ist er in Matavenero schon lange nicht mehr. Mit seinen rund 70 Einwohnern findet er das Dorf zu klein:
"Das sind alles einfach zu wenig Menschen, das bringt nicht die Kraft zusammen, die kollektive genossenschaftliche Modelle wirklich umzusetzen. Das ist das Problem. Du brauchst eine gewissen Zahl Menschen, bevor die ganze Dynamik anfängt zu stehen. Das ist so. Das ist eone Zahlenmagie auch. Das hab ich auch erst die letzten Jahre gelernt. Die Kommune-Forschung weiß das jetzt seit einer Weile. Ich hab das irgendwann auch mal kennengelernt, dieses Wissen, vor zehn, zwölf, 15 Jahren, da war hier nämlich eine schwere Krise, genau. Da war einfach der Honey Moon vorbei."
Aus Jörns Sicht ist das bis heute so geblieben – auch wenn viele Bewohner sich sehr um ein funktionierendes Gemeinschaftsleben bemühen. Alle Entscheidungen im Dorf werden in regelmäßigen Versammlungen im Konsens getroffen, diese Regel haben sich die Mataveneros selbst auferlegt. Der spanische Staat hält sich hier aus allem raus. Er schickt keine Müllabfuhr und niemanden, der Straßenlaternen montiert. Für die Bewohner bedeutet das einerseits viel Freiheit. Auf der anderen Seite heißt es aber auch, dass sie sich um alles selbst kümmern müssen.
Ein Platz, wo die Welt sich langsamer dreht
Die 30-jährige Anneli aus Dresden lebt seit acht Jahren hier. Seit sieben Jahren ist sie mit Fernando zusammen, einem Spanier. Gemeinsam haben sie einen fünfjährigen Sohn, Joel. Die Arbeit, die jeden Tag aufs Neue auf die Bewohner von Matavenero wartet, ist für Anneli oft eine Last:
"Alles, du. Und der Weg muss funktionieren, und der Kanal muss fließen, und der Wintergarten muss geregelt sein, die Tiere, das alles, es muss alles, alles, das Feuerholz, es muss alles geregelt sein. Es ist hier wie vor 100 Jahren."
Anneli sitzt in einer Hollywoodschaukel im Garten vor ihrem Holzhaus am Rand von Matavenero. Für sie ist es hier auch deshalb oft schwer, weil sie seit ihrem zwölften Lebensjahr unter einer Arthritis leidet. Das bedeutet, dass ihre Gelenke stark entzündet sind. Durch die Krankheit sind ihr oberer Rücken und die Schultern so krumm geworden, dass sie von weitem wie eine Greisin wirkt. Außerdem kann sie einige Finger nicht gerade ausstrecken. Dass ausgerechnet sie einen Ort wie diesen gewählt hat, findet Anneli nicht paradox. Im Gegenteil:
"Ich brauche das. Mit meiner Krankheit brauch ich einen Platz, wo die Welt langsamer sich dreht. Ansonsten geht das alles zu schnell, ich kann dann nicht hinterher."
Ihre Ankunft in Matavenero vor acht Jahren, mitten im Winter bei 50 Zentimetern Schnee, war allerdings gerade wegen ihrer Krankheit besonders schwierig:
"Wenn du ein großer starker Mann bist, Familie hast und was weiß ich, dann werden sie dich vielleicht alle bejubeln. Aber wenn du eine kleine, zierliche Frau bist und du kommst mitten im Winter und dann sagst du noch: Oh naja, ich komm im Winter, weil ich muss halt gucken, wie das mit meiner Krankheit funktioniert, dann werden sie dir alle sagen: Nein, das ist nichts für dich, geh bloß wieder heim. Die haben nicht in mich vertraut. Das hat mir auch ziemlich viel Energie geraubt. Aber ich war standfest. Ich bin stark, hab das geschafft. Ja, ich hatte es schon ein bisschen schwer. Mit den Leuten. Mit dem Berg nicht."
In Deutschland hat Anneli vor mehr als zehn Jahren eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester angefangen, aber nicht abgeschlossen. Sie war der Meinung, dass es im Krankenhaus zu wenig um die Patienten ging und zu viel um die Frage, wie man mit ihren Therapien Geld verdient. Hier in Matavenero hat sie das Gefühl, dem Kapitalismus entgehen zu können. Ihre Familie lebt von 800 Euro Invalidenrente, die ihr Freund Fernando vom spanischen Staat bekommt. Er ist auf einem Auge blind, weil ein Tumor auf seinen Sehnerv drückt. Das Leben in Matavenero, glaubt Anneli, tut vor allem ihrem Sohn Joel gut:
"Deswegen bin ich hier, wegen der Kinder. Ich bin hier wegen der Natur, weil die mir gut tut, und ich bin hier, weil ich halt sehe, dass eine Familie, also ganz besonders das Kind, das braucht gewisse Freiheit, um sich selbst entfalten zu können und dieses Selbstvertrauen zu lernen. In sich selbst, ja? Ich kann das! Ich kann den Stein da hochklettern und ich brauch keinen, der mir dabei zuguckt. Ich schaff das. Oder: Ich kann einfach alleine ins Zentrum gehen zu meiner Freundin und mit der spielen. Ja? Er kann das. Er ist groß!"
Acht Nationen, neun Sprachen
Vom Fenster ihres Holzhauses guckt Annelies Familie auf ein Bergpanorama, das es in jeden Reiseprospekt schaffen würde. Rund 70 Menschen aus acht Nationen leben hier in Matavenero. Etwa ein Drittel von ihnen sind Deutsche.
Annelis Familie hat sich eine Komposttoilette in den Garten gebaut. Ein kleiner Luxus. Die meisten hier haben keine eigene Toilette, die Kinder machen oft ins Gebüsch oder auf den Weg.
Annelis Freund Fernando zeigt mir den Waschraum, den er momentan neben dem Holzhaus für seine Familie baut:
"Ich muss noch den Fußboden verlegen und wir brauchen Fensterscheiben und dann ist das unser Badezimmer. Das hier ist die Badewanne."
Ich will wissen, wo sich die Familie bisher wäscht.
"Das hier ist momentan unser Badezimmer."
Fernando zeigt auf eine Schüssel auf dem Fußboden. Im Winter erhitzt die Familie Wasser auf dem Gasherd und füllt es dann hier rein. Für den Sommer gibt es eine Gartendusche. Das Wasser holen sie mit einem Schlauch aus dem Gebirgsbach. Anschließend heizt es sich in einem schwarzen Beutel durch die Sonne auf, bis es warm genug zum Duschen ist.
Dieses sehr spartanische Leben und die Tatsache, dass es häufig Streit unter den Bewohnern gab, waren für Nina ein Grund, Matavenero nach 13 Jahren zu verlassen. Heute lebt sie in Requejo, einem kleinen, aber zivilisierten Dorf, etwa zwei Stunden südwestlich von hier, kurz vor der Grenze zu Portugal. Nina ist 58 Jahre alt und stammt aus der Schweiz. Sie hat Matavenero Ende der 80er-Jahre zusammen mit einem Deutschen als Erste wiederbesiedelt. Ich besuche sie in Requejo und wir sitzen zusammen im sonnigen Innenhof ihres restaurierten Bauernhauses. Ich will wissen, wie es damals, Ende der 80er-Jahre, zur Wiederbesiedlung von Matavenero kam.
"Das hat mit den Rainbow Gatherings zu tun. Die sind in den 80er-Jahren von Amerika nach Europa rübergeschwappt, und wir haben in abgelegenen Gegenden, wo man mit dem Auto nicht hinkommt, Camps organisiert. Und da war der Sinn, zusammenzuleben, einen Monat lang, und Workshops zu machen über alternative Themen, Körperarbeit, Psychosachen, und überhaupt das Zusammenleben zu erproben unter ganz einfachen Umständen und natürlich keinesfalls der Natur zu schaden. Und ich fand das als Ansatz, als Ausprobieren gut, aber nach dem zweiten, dritten solchen Camp fanden mehrere Leute: Ja, lass uns das doch mal probieren, irgendwo wirklich zusammenzuleben und nicht jeder gleich wieder in seinen Alltag mit Büro oder Fabrik zurückzugehen."
Die Rainbow-Gatherings, von denen Nina spricht, waren Treffen von Hippies aus der ganzen Welt in den 70er- und 80er-Jahren.
"Während so einem Camp in Spanien hab ich dann eben in der Stadt mal gesehen, einen Artikel gesehen in der Zeitung. Da stand, dass ganz viele Dörfer verlassen sind oder fast verlassen sind. Da war gleich eine Liste dabei der ganz verlassenen Dörfer in dieser Gegend, wo wir jetzt sind, und dann haben wir darüber geredet abends im Tipi, ob wir uns diese Dörfer mal anschauen. Schließlich sind wir dann in eins der allerverlassensten und das war Matavenero. Da war niemand, da gab es keine Straße. Da hat es nie elektrischen Strom gegeben und die Wasserleitung in den Häusern gab es auch nicht. Wir haben dann aber rausgefunden, dass es einen Kanal gab und den hat man in einem halben Jahr Arbeit wieder flottgemacht und dann Wasser zum Dorf hergeleitet."
Nina ist damals 30 Jahre alt und lässt für Matavenero ihr Schweizer Mittelstandsleben hinter sich: Sie kündigt ihre Wohnung und den Job bei einer Presseagentur. Für sie beginnt das größte Abenteuer ihres Lebens:
"Und dann sind wir zu zweit los und wir waren kein Paar. Das war das große Experiment auf dem Berg, alleine. Aber das war so spannend. Man konnte keinen Abendspaziergang machen ohne Machete. Das war alles zugewachsen. Das Dorf war sozusagen im Dornröschenschlaf. Alles unter Brombeerhecken. Alles zugewachsen. Also wenn man wissen wollte: Ist hinter dieser Hecke jetzt eine Tür oder Fenster, dann musste man erst mal arbeiten. Um von einer Terrasse zur nächsten zu kommen, musste man dann auch mit einer Machete sich da durch kämpfen. Und das war aber sehr spannend, weil wir fanden, es war September, wir fanden dann auch Trauben und Äpfel und Früchte und so. Aber in den Häusern, das war ein bisschen enttäuschend, da gab es keine Öfen mehr oder gar nichts, das war alles rausgerissen, teilweise die Böden verbrannt."
Gerade die ersten Monate sind für Nina damals oft eine Herausforderung und eine große Mutprobe. Besonders dann, wenn sie mit schweren Einkaufstüten irgendwie den Gebirgsbach überqueren musste:
"Ich wollte einkaufen gehen, einen Kaffee trinken, Zivilisation sehen, und dann wenn ich den Rucksack dann so voll gepackt hatte mit Einkäufen und musste über so einen Baumstamm balancieren oder irgendwie rittlings drüber, dann hatte ich manchmal Schiss. Ich dachte, wenn ich jetzt da runter falle, findet mich kein Mensch mehr."
Hilfe von Hippie-Kommunen in Europa
Nina und ihr deutscher Mit-Aussteiger Lodge schreiben nach den ersten Monaten einen Brief an andere Hippie-Kommunen in Europa und bitten um Hilfe beim Aufbau von Matavenero. Nach und nach kommen immer mehr Leute dazu. Mitte der 90er leben über 100 Menschen dort. Endlich sind sie genug, um ein richtiges Dorfleben zu führen. Eine kleine Schule samt Kindergarten wird eingerichtet. Nina unterrichtet dort. Mehr als 30 Kinder leben jetzt zeitweilig hier. Im immer größer werdenden Dorf tauchen langsam erste Probleme auf:
"Es war eine gelebte Utopie, Matavenero. Damit will ich sagen: Es ist eben nicht unmöglich. Ich würde sagen, solange die Anonymität nicht einkehrt und viel, viel Vertrauen ist unter den Leuten, und auch eine gewisse Zahl nicht überschritten ist, solange kannst du einen Laden haben, der immer offen ist. Der Laden war nicht verschlossen. Die Bar auch nicht. Und man konnte zu jeder Tages- und Nachtzeit rein und sich was nehmen. Das einfach aufschreiben. Und irgendwann wurden wir halt immer mehr Leute und es ist auch ein gewisser Grad an Anonymität entstanden."
Gleichzeitig kommen damals immer mehr Menschen, die kaum etwas besitzen. Nina selbst lebt von Geld, das Freunde und Familie ihr spenden. Es stört sie, dass kaum jemand über die Zukunft und die Frage, wovon sie im Alter einmal leben wollen, nachdenkt:
"Ich glaube, in dem Punkt ist das nicht zu Ende gedacht. Mit den ersten Pionieren haben wir darüber oft geredet, ob wir vielleicht so eine Art Kasse machen sollen. Wenn wir 150 Leute sind oder sagen wir: 70, 80 Erwachsene. Könnte man eine Kasse anlegen und wenn dann jemandem etwas passiert oder er alt wird oder so, etwas zahlen. Wir haben daran rumgemacht, ob wir was Eigenes aufziehen. Entweder nur als Kleingruppe, im Dorf. Oder mit anderen Kommunen zusammen."
Geklappt hat das bis heute nicht. Nach 13 Jahren entscheidet Nina sich schließlich, Matavenero zu verlassen. Heute arbeitet sie als Übersetzerin. In ihrer Zeit im Aussteigerdorf hat sie viel für ihr heutiges Leben gelernt.
"Also, das sind Erbsen, Zwiebeln, Karotten, Pfirsiche, Zucchini, Kohlrabi, Kohl, Fenchel, Bohnen, Stangenbohnen und so weiter. In Matavenero war das natürlich noch wichtiger, denn man konnte sie ja nicht überall kaufen. Und auch das Einmachen hab ich da gut gelernt. Gab keine Tiefkühltruhe. Wir haben hunderte von Gläsern eingemacht in Matavenero. Bohnen, Tomaten, alles ins Glas. Wir haben auch experimentiert. Süß-sauer einlegen und alles Mögliche."
"Kinder finden Wohnwägen super"
Ich bin zurück in Matavenero und schaue noch einmal bei Jörn vorbei, der immer noch Sachen für seine Reise nach Deutschland sortiert. Das Aufräumen dauert auch deshalb so lange, weil ihm neben zwei kleinen alten Wohnwagen noch ein Bauwagen, ein Lieferwagen und eine wieder aufgebaute Ruine gehören. In allen Behausungen hat er einen Teil seiner Sachen verstaut. Die meiste Zeit verbringt er heute in seinem Bauwagen. Mit seiner Familie hat er früher in einem der Wohnwagen gelebt:
"Früher hatte ich darin gewohnt, und auch die Tochter und die Mutter der Tochter. Eine Zeitlang, als wir noch zusammen waren. Irgendwann trennten wir uns in den ersten Jahren des Lebens der Tochter und als wir noch zusammen waren, lebte sie eben auch mit hier. Da waren wir nur in diesem kleinen Wagen. Auf acht Quadratmetern. Ja, das geht schon, die sind sehr effektiv die kleinen Dinger und mit so ein bisschen Schuppen und Fässern und einfachen Möglichkeiten kann man Kleiderschränke praktisch auslagern. Dann sind gewisse Dinge einfach draußen. So kann man dann auch sehr einfach so einen Raum besiedeln, als Start. Das kann man sich überlegen, ob das auf die Länge sein muss, aber für ein paar Jahre taugt das auf jeden Fall. Und Kinder finden Wohnwägen super, hab ich sehr gute Erfahrungen gemacht. So, jetzt ist es hier unten erstmal fertig."
Vor dem Schulhaus gleich am Anfang des Dorfes treffe ich mich später am Nachmittag mit Nicolas. Er ist 37 Jahre alt und vor einem Jahr von Alicante im Südosten Spaniens hierher gezogen. Dort hatte er einen schlecht bezahlten Job als Touristenführer. Hier in Matavenero kümmert er sich mit neun anderen Bewohnern um die Schule und den Kindergarten. Niemand hier muss dafür studiert oder eine Ausbildung gemacht haben. Jeder, der glaubt, er könne Kindern etwas beibringen, darf mithelfen.
Nicolas: "Wir versuchen hier, viel die Eltern in unsere Schularbeit einzubeziehen. Als Hilfslehrer oder auch mal als Aufpasser. Und wir versuchen, wie sagt man das, demokratischer mit den Kindern umzugehen. Wir versuchen, ihre Bedürfnisse zu respektieren, so versuchen wir das zu sehen. Sie sollen hier die Fähigkeiten erwerben, die sie brauchen, aber in ihrem Rhythmus. Eben so, wie sie das brauchen. Klar, hier sieht man keine Autos, keine Motorräder. Wir sind mehr draußen, als in der Schule. Das ist die Art und Weise, wie Kinder hier lernen."
Der spanische Staat duldet die Schule, aber wer einen Abschluss machen will, muss an eine staatliche Einrichtung. Es gibt in Matavenero keine Hausaufgaben, keine Klassenarbeiten und keine Noten. Von klein auf lernen alle Kinder hier mehrere Sprachen.
Nicolas: "In der Schule sprechen wir Spanisch. Aber es gibt auch Englischstunden und wir versuchen Deutsch beizubringen, aber im Prinzip sprechen wir Spanisch im Unterricht. Alle Kinder sprechen Spanisch und eine zweite Sprache. Normalerweise ist das Deutsch, aber einige sprechen Englisch, andere Gallego - und es gibt auch Kinder aus anderen Nationalitäten. Lass uns mal zählen. Neun. Es gibt neun Sprachen hier."
Lebenskünstler unterrichtet Lebenskunst
Zum Abschluss meines Besuchs hier in Matavenero gehe ich noch einmal bei Marek, dem Straßenmusiker, vorbei. Er hilft noch immer in der Bar. Auch er wollte ursprünglich einmal Lehrer werden. Sein Studium in Deutschland hat er aber nie beendet. Trotzdem hilft er wie Nicolas hier in Matavenero an der Schule. Marek bringt den Kindern die Dinge bei, von denen er glaubt, dass sie ihm selbst im Leben bisher am meisten geholfen haben:
"Naja, bei mir speziell, ich bin halt Lebenskünstler, und dadurch lernt man Lebenskünste, so. Weil mein Glück ist halt: Dadurch, dass ich Jongleur und Musiker bin, bin ich halt extrem unabhängig. Ich gehe wirklich auf die Straße und mache irgendwas und krieg mein Geld, ohne irgendwie … einfach mein Geld auf die Hand. Und das ist halt für mich der beste Beruf, die beste Unabhängigkeit irgendwie."
Marek genießt es, hier in Matavenero in den Tag hineinzuleben. Macht er sich manchmal Sorgen um seine Zukunft, für die er bislang keinen Cent angespart hat? Wie stellt er sich sein Leben vor, wenn er alt ist?
"Ich kenne so viele Leute, die älter sind, und mir gesagt haben, dass sie bereut haben, dass sie gar nicht gelebt haben, quasi. Dass sie dann die ganze Energie sparen und viel Geld, bis sie 65 sind und mit 65 merken sie: Boah, hätte ich das lieber mit 20 gemacht, was ich jetzt alles mache Schönes, oder so, ne? Aber neein, da wollte ich das, das, die Sicherheiten, alles durchziehen und was das System halt erwartet oder was weiß ich nicht. Irgendwie Eltern oder Arbeitgeber oder Lehrer. Alle, die einen beeinflussen einfach, ne? Oder sei es nur die Freundin, die irgendwie ein neues Auto haben will oder so. Ich will eigentlich hier in der Gegend sterben. Muss jetzt nicht Matavenero sein, aber hier Nordwestspanien ist so voll das geile Klima, viel Sonne, aber nicht zu heiß."
Die Mataveneros wünschen sich, dass wieder mehr Menschen in ihr Dorf ziehen, damit ihr Leben wieder leichter wird. Die Arbeit, die täglich anfällt, um den Bach und die Häuser einigermaßen funktionsfähig zu halten, ist für 70 Bewohner eigentlich zu viel. Bei den Treffen der Rainbow-Bewegung werben sie für ihr Dorf. Doch Illusionen machen sie sich nicht: Die Mataveneros wissen, dass ein Leben hier, abseits der Welt, nur für die wenigsten Menschen in Frage kommt.
Catalina Schröder: "Beeindruckt hat mich, unter welch einfachen Bedingungen die Menschen in Matavenero leben. Ich habe selbst dort übernachtet, es wird dort wirklich kalt. Es gibt Menschen dort, die das seit zehn, fünfzehn Jahren durchziehen."
Themenschwerpunkt "Zukunft denken"
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst - Welche anderen Welten sind möglich?