Lernen im Wohnmobil statt im Klassenzimmer
Lernen ohne Schule und Zensuren - kann das gut gehen? Zwei Mütter haben dieses Experiment mit ihren sieben Kinder gewagt. Im Wohnmobil bereisen sie Europa. Möglich ist das nur, weil die Familie ihren Hauptwohnsitz nach Portugal verlagerte, wo Heimunterricht erlaubt ist.
"Alle Schotten dicht?"
"Alle Schotten dicht"
Abfahrt – der Siebeneinhalb-Tonner setzt sich in Bewegung. Im Fahrerhaus sitzen die beiden Mütter Line und Antje. Hinter ihnen ihre sieben Kinder zwischen fünf und achtzehn Jahre. Die ungewöhnliche Familie hat in diesem Jahr 14 Länder in Europa besucht. Line Fuks erklärt ihre Unternehmungslust:
"Für mich ist die Welt wie ein großes Haus mit vielen Zimmern und ich würde gerne jedes Zimmer mal sehen. Deshalb sind wir schon ein bisschen Nomaden, die aber verwurzelt sind - in Deutschland, aber wir haben auch eine Basis in Portugal, wo wir leben. Sehr einfach. So wie wir es mögen. In einer Jurte mit Solarenergie und Quellwasser. Wir haben schon auch Wurzeln. Letztendlich ist unser Wohnmobil auch unser Zuhause."
Begonnen hat für Line und Antje alles mit der Gründung eines naturnahen Waldkindergartens in Baden-Württemberg. Später folgte die erste Freie Schule - dann die zweite in Brandenburg. Drei ihrer Kinder besuchen dort den Unterricht. Die anderen vier haben nie ein Klassenzimmer von innen gesehen. Sie wurden von den Müttern zuhause unterrichtet. Nur möglich, weil die Familie ihren Hauptwohnsitz nach Portugal verlagerte.
Bücher und Unterrichtsmaterialien an Bord
Das Leben im großen Campingbus beginnt 2005. Seitdem lebt die Großfamilie im Winter in einer Jurte in Portugal, baut Gemüse an und unternimmt zwischendurch Touren unter dem Motto "Reisen bildet".
Zur Ausstattung an Bord gehören Bücher und Unterrichtsmaterialien. Die Mütter bemühen sich um regelmäßige Schulstunden. Sie scheitern allerdings am Widerstand der Kinder, erzählt der heute 18-jährige Lukas.
"Die Zeit in Spanien, Portugal und auch Frankreich, das waren die besten Zeiten in meinem Leben. Wir sind die ganze Zeit an Stränden gewesen und hatten sehr viel Spaß."
"Zu dem Zeitpunkt war es noch so, dass wir ganz viel Lehrbücher hatten und dann gab es immer so, wie haben wir das genannt? Lernzeiten. Also wir haben immer am Strand gesessen, immer zu viert oder zu fünft auf einer Decke. Und meine Mütter haben das dann immer kontrolliert. Am Anfang hat das noch allen Spaß gemacht, aber nach einer Weile ist das so zu einer Pflicht geworden. Sobald man etwas macht, weil jemand anders das von einem erwartet, dann wird das sehr, sehr lästig."
Die Mütter akzeptieren die Entscheidung der Kinder und vertrauen auf das "Freilerner–Prinzip". Es ist ein Versuch, der erst einmal zu scheitern droht.
Sie sprechen vier Sprachen
Die jetzt 16-jährige Madita erinnert sich:
"Das hat sich dahin entwickelt, dass wir irgendwann gar keine Schule mehr gemacht haben, sondern uns dafür entschieden haben, was wir machen und wofür wir uns interessieren und uns dann mit den Dingen beschäftigt haben."
Mit zwölf erwacht in Lukas das Interesse am Internet. Mit einem deutschen Freund in Portugal erwirbt er Grundkenntnisse im Programmieren. Ein Thema, das ihn bis heute weiter beschäftigt. Sein zweites wichtiges Interessengebiet ist Geschichte. Er und die Mädchen lesen viel. Bei Aline und Mia ist es Literatur. Sie wollen später zum Theater.
Die Mütter Line und Antje vertrauen den Kindern. Wer von ihnen zur Schule gehen oder einmal studieren will, könne das selbst entscheiden. Die Mütter sind sicher, dass ihre Kinder gute Voraussetzungen mitbringen. Sie könnten vier Sprachen – Deutsch, Englisch, Portugiesisch und Spanisch – dazu hätten sie beste Kenntnisse in Geografie, Biologie, Geschichte und Literatur.
Zur Zeit macht die neunköpfige Familie Station im Haus von Lines Exmann bei Bad Homburg. Die beiden Sechsjährigen helfen Mutter Line mit dem Elektrobohrer bei der Anfertigung von Holzketten. Die verkaufen sie später ab elf Euro auf Flohmärkten und im eigenen Internet-Shop. Dort kann man auch Stofftaschen der 13-jährigen Emma kaufen oder ein Buch von Line Fuks über ein Jahr der Familie in der amerikanischen Wildnis.
Mit den Einkünften aus Flohmarkt, Internetverkauf und Beratungsgesprächen für Menschen auf der Suche nach alternativen Lebenskonzepten kann die Familie einen großen Teil ihrer Lebenshaltungskosten bestreiten. Dazu kommen Unterhaltszahlungen. Gekauft wird grundsätzlich Second-Hand.
"Für uns ist es der richtige Lebensstil"
Die Teenager Alina und Mia absolvieren gerade einen Tanzkurs – sie sehen das als Vorbereitung für ihre Musicalausbildung.
Lukas, der Älteste, der 2013 zu seinem Vater nach Bad Homburg gezogen ist, hat den Besuch eines Gymnasiums nach zwei Jahren abgebrochen.
Er will jetzt ohne Schulabschluss mit einem Freund eine eigene Internetfirma gründen.
Madita beginnt eine Ausbildung in einer Tierklinik. Sie verblüffte bei ihrer Bewerbung mit detaillierten Kenntnissen in der Vogelkunde, konnte zum Beispiel einen Dompfaff auf weite Entfernung sehen, Zeisig, Lerche oder Pirol an ihren Stimmen erkennen.
Auf die Frage, ob sie ihre Art zu leben auch anderen empfiehlt, antworten die Mütter:
"Für uns ist das eine Alternative, was wir leben ist auch nicht für jeden Menschen. Ich glaub, dass viele die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen, das ist überhaupt nicht unseres, was total in Ordnung ist. Für uns ist es momentan der richtige Lebensstil."