Antithese zur Leistungsgesellschaft
Paul ist 43 Jahre alt, als er aussteigt aus seinem bisherigen Leben. Fortan infiziert die Hauptfigur in Julian Pörksens Regiedebüt "Whatever Happens Next" die Menschen, die ihm begegnen, mit seinem Freiheitsdrang – in all seiner Ambivalenz.
Patrick Wellinski: Paul Zeise ist 43 Jahre alt, er hat eine Frau und einen Job. Und eines Tages, da fährt er mit dem Fahrrad zu Arbeit, er hält an, steigt ab, und dann geht er los. Irgendwohin. Paul steigt in fremde Autos, übernachtet bei fremden Leuten, geht auf Beerdigungen, begleitet Studenten zum Auslandssemester – mit einem Wort: Paul ist ein Aussteiger, ganz befreit von den Ketten der Leistungsgesellschaft.
Seine Frau sucht ihn zwar mit einem Privatdetektiv, aber die Aussicht auf Erfolg ist eher gering. Paul ist die Hauptfigur im Regiedebüt von Julian Pörksen, "Whatever Happens Next". Pörksen ist Dramaturg am Schauspiel Köln, war Assistent bei Christoph Schlingensief und hat erst letzten Donnerstag die Dostojewski-Premiere von Frank Castorf betreut. In all seinen Arbeiten zieht sich das Thema Zeitverschwendung und Langeweile durch. "Whatever Happens Next" ist ein Höhepunkt dieser Beschäftigung. Guten Tag, Herr Pörksen!
Julian Pörksen: Guten Tag!
Plädoyer für Zeitverschwendung
Wellinski: Vor fünf Jahren haben Sie ein Buch herausgegeben mit dem Titel "Verschwende deine Zeit". Das war ein Plädoyer für ein anderes Zeitverständnis und vor allem auch gegen den Produktivitätswahn unserer Gesellschaft. Na ja, und in Ihrem Spielfilm "Whatever Happens Next" steigt Paul aus dem Hamsterrad des Alltags aus und lässt sich treiben. Muss man den Film jetzt als Fortsetzung Ihres Buches verstehen?
Pörksen: Also das hat sicher miteinander zu tun. Es gibt auch noch einen anderen Film, einen Kurzfilm, der heißt "Sometimes we sit and think and sometimes we just sit", wo eigentlich das zum ersten Mal aufkam, diese ganze Frage, wie man sein Leben lebt, wie man sich bestimmen lässt von bestimmten ökonomischen Kriterien und so weiter. Und ich hab das eigentlich versucht, immer wieder neu zu durchdenken und auch in neuen Medien sozusagen mir zu erschließen, und der Film ist sicherlich so ein Versuch. Und gleichzeitig ist es natürlich einfach erst mal eine Geschichte auch, von jemand, der sich der Welt öffnet und den Menschen öffnet und auf sie zugeht und wahnsinnig viel erlebt.
Wellinski: Wie haben Sie denn genau diese Geschichte konstruiert, war denn am Anfang noch das Bild von Paul – er ist ja 43, steigt dann einfach vom Fahrrad ab –, was war da am Anfang die Grundidee dieses Plots?
Pörksen: Also am Anfang war auf jeden Fall, dass jemand einfach verschwindet, weil ich diesen Moment so interessant finde. Ich kenne das ehrlich gesagt auch von mir sehr gut. Ich sitze dann im Zug oder ich sitze im Auto oder sonst wo, und dann kommt so ein Gedanke, was wäre, wenn ich jetzt einfach gehe, also wenn ich aussteige, wenn ich das Auto stehen lasse oder sonst was. Das hat mich total interessiert, eine Figur zu haben, die das tatsächlich einmal macht, was, glaube ich, viele Menschen sich so überlegen.
Es war lange nicht klar, ob er Auto fährt oder Rad oder so, das hat dann der Sebastian Rudolph vorgeschlagen, der den auch spielt, dass wir tatsächlich so ein Fahrrad nehmen, weil man da viel über jemand erzählen kann. Der hat so Taschen hinten dran und so, ist alles so ein bisschen spießig.
Ein Hochstapler des Alltags
Und dann ist ja das Tolle, dass man, wenn man so eine Figur hat wie diesen Paul Zeise, eigentlich überall hinkommt. Also man kann in fast jedes Milieu, fast jede Situation reingehen, weil der natürlich als so eine Art Hochstapler des Alltags oder so oder des Alltäglichen ungeheuer souverän ist darin, sich irgendwo einzuklinken. Und dann konnte ich so ein bisschen mich durch die Milieus und Szenerien bewegen, die mich auch interessiert haben gerade im Zusammenhang mit dieser Figur.
Wellinski: Also er geht ja auf Beerdigungen, er geht auf WG-Partys, übernachtet dann da, macht Frühstück, begleitet einen Studenten zu seinem Erasmusjahr nach Polen. Sie haben Hochstapler gesagt, aber de facto, dieses Einschleichen in andere Biografien und so, einen Teil dieser Biografie mitleben, Paul ist ja ein Geist.
Pörksen: Ja, da gibt es sehr unterschiedliche Interpretationen von dem, was er ist. Ja, aber man könnte auch sagen, er ist ein Virus, also er infiziert die Leute, die er trifft eigentlich mit so einem Freiheitsgedanken. Es gibt einige Figuren, die dann wiederkommen später im Film und das irgendwie aufgegriffen haben, die irgendwie angeregt worden sind durch ihn. Er ist sicherlich auch ein bisschen Idee, aber er ist natürlich auch ein ganz konkreter Mensch und eine ganz konkrete Person mit einer Geschichte, die da durchgeht, und dann doch irgendwann, wie man später erfährt, auch eine Sehnsucht nach etwas.
Wellinski: Er ist ja nicht gerade redselig, weshalb wir seine Motivation eher erahnen müssen, als dass wir sie erzählt bekommen. Wie würden Sie das denn beschreiben, wie begegnet Paul dem Leben, nachdem er quasi ausgestiegen ist?
Pörksen: Ich glaube, er hat die seltene und irgendwie glückliche Fähigkeit, sich auf das einzulassen, was ihm gerade passiert, und nicht darüber nachzudenken, was es ihm nützt, wohin es führen sollte, sondern er ist ganz konkret an der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Moment dran. Das ist natürlich eine ungeheure Offenheit, also diese Fähigkeit, zu sagen, ich schaue, was als Nächstes passiert. Darum heißt der Film ja auch so, das ist eigentlich ein John-Cage-Zitat. Also ich lasse den Zufall zu, ich ertrage, dass ich wirklich nicht weiß, wohin es geht. Das haben wenige Menschen. Dadurch hat er natürlich eine Offenheit oder so, die für andere – für seine Gesprächspartner oder seine Begegnungen – total interessant ist, weil er einen Freiraum ja erst mal auch öffnet. Er macht ja erst mal mit.
Aussteigen als egoistischer Akt
Wellinski: Ist das nicht eigentlich auch ein ziemlich egoistischer Akt, dieses Aussteigen? Er lässt ja seine Frau zurück, die sucht ihn ja mit einem Detektiv.
Pörksen: Das ist total egoistisch, natürlich. Das geht auch bei dem Film mir sehr stark darum, dass man diese ganze Ambivalenz von dem, was wir eigentlich als Freiheit oder eine Art von – ich weiß gar nicht, Selbstverwirklichung ist ein grässliches Wort – Nachgehen der eigenen Ambitionen begreifen, ist eine ungeheuer ambivalente Angelegenheit. Und er macht das sehr radikal, und dadurch ist natürlich auch die Verletzung relativ groß, die er hinterlässt, gerade bei seiner Frau, auch bei anderen Leuten, weil er sich natürlich komplett der Verantwortung entzieht und überhaupt jeder sozialen Verabredung, die sagt, es gibt eine Kontinuität, ich kann darauf vertrauen, dass du wiederkommst und so.
Wellinski: Irgendwann, da hat schon Paul viel erlebt, da hat er ja wirklich nichts mehr, also kein Geld, keine Frau, kein Haus und auch keine Hose. Ist das das Bild eines glücklichen Menschen?
Pörksen: Ich glaube, zumindest ist es eine sehr glückliche Situation, in der er sich da befindet. Das wird er ja auch später noch gefragt in dem Film, ob er eigentlich glücklich ist, eine sehr schwierige Frage, um die kreist der ganze Film natürlich implizit. Ich glaube, dass er zumindest partiell sehr viel Gutes und Interessantes erlebt, weil natürlich auch die Menschen, denen er begegnet, irgendwie gut und interessant sind.
Begegnung mit dem Tod
Wellinski: Das Bild des Aussteigers, das ist auch in der deutschen Literaturgeschichte, aber nicht nur gerne konnotiert mit jemandem, der auch aus Deutschland rausgeht, verreist, meistens, seit Goethe, ist vor allem Italien so ein Sehnsuchtsort. Ja, Paul landet aber in Polen. Ist das jetzt so eine Art grausamer, ironischer Witz?
Pörksen: Na ja, es war ein bisschen die Frage, ich wollte gerne mit ihm wohin, wo er auf eine andere Art nicht zu Hause ist, also dorthin, wo er die Sprache vielleicht auch nicht spricht und wo auch gleichzeitig die Sehnsucht einen nicht so hintreibt. Italien, wie Sie gesagt haben, ist ja einfach seit Goethe total besetzt durch eine verklärte romantische Vorstellung.
Dann habe ich so ein bisschen überlegt, was liegt denn sozusagen um Deutschland rum, wo kann man ihn hinschicken, in eine Welt, die vielleicht nicht so vertraut ist und wo man vor allem erst mal auf Sprachhindernisse stößt, wo sein Lebensmodell auch ein bisschen in die Krise gerät. Und Polen bot sich irgendwie an. Ich war da auch ein paarmal und fand das sehr faszinierend, sehr interessant. Darum hab ich ihn da hingeschickt. Und gleichzeitig begegnet er da ja ganz tollen Leuten, muss man sagen, also es ist ja keine – er begegnet auch dem Tod und so weiter, aber es ist ja keine eindeutig deprimierende Episode, würde ich sagen.
Beziehungen werden zurückgelassen
Wellinski: Es ist ja interessant, was Paul dann mit denen anstellt, in deren Leben er quasi eindringt oder sich dranheftet. Für viele ist das eine Provokation, wie erlaubt er sich das eigentlich, aber auf der anderen Seite gibt es auch Personen, Figuren, die das, glaube ich, so ein bisschen bewundern. Am interessantesten fand ich ja die Figur des Studenten, mit dem er eben nach Polen fährt zum Beispiel. Man spürt da auch so ein bisschen, dass da so eine Anerkennung ist, da hat's einfach jemand gemacht.
Wieso fällt es so schwer, diesem Treiben von Paul sich irgendwie dann doch anzuschließen? Es löst sich ja keine Kettenreaktion aus in dem Film, wo alle sagen, ja, jetzt gehen wir quasi mit, alle bleiben ja letztendlich verhaftet in dieser, sagen wir mal, Produktivitätsschleife des Alltags.
Pörksen: Weil es natürlich in der Konsequenz bedeutet, dass man alles zurücklassen würde, jede Verbindung, jede Sicherheit, jede reelle Beziehung, die über längere Zeit gewachsen ist. Das ist ein hoher Preis, den er da zahlt. Das wird ihm irgendwann auch bewusst oder wird auch den Zuschauern, glaube ich, im Laufe des Films bewusst, weil es am Anfang noch einen sehr schönen Drive hat und mit einer gewissen Leichtigkeit vonstatten geht und später eigentlich auch problematisiert wird in dieser Form.
Es ist ja auch nicht so, dass dieser Film sozusagen sagt, darin liegt das Glück, und das Unglück ist darin, wie wir jetzt gerade leben, das würde ich so nie sagen. Es ist einfach nur eine Gegenfigur gegen das, was uns so beherrscht. Aber ich meine das nicht so dolle wertend, also man kann ja genauso zufrieden sein in dem, was man gerade so lebt und was man so arbeitet und so weiter. Das ist mehr der Versuch, sich gegen so eine Tendenz zu wehren, die sagt, man muss durch Produktivität eigentlich erst sich behaupten. Und dann ist er natürlich eine total radikale Antithese.
Ambivalenz zwischen Melancholie und Heiterkeit
Wellinski: Der Film, ich hatte das schon erwähnt, ist eine Art Roadmovie, melancholisch, heiter, witzig, aber dann auch durchaus ernst und traurig, also es ist so ein Zwischenton zwischen märchenhaft und irgendwie realistisch, dann wieder verträumt. Wie wichtig war Ihnen das, dass quasi der ganze Film auch so eine gewisse Ambivalenz hat in seiner Tonlage?
Pörksen: Das war total wichtig, und zwar eigentlich in allen Bereichen. Es fing an mit der Hauptfigur und langen Gesprächen mit dem Hauptdarsteller darüber, wie man die anlegen kann, wie viel Heiterkeit, wie viel Melancholie, wie viel Zuneigung und wie viel auch Distanz man ihm eigentlich entgegenbringt. Und es war sehr stark bestimmt bei der Arbeit mit dem Kameramann, wo wir ganz viel drüber geredet haben, wie nah kommt man dieser Figur, wie sympathisch findet man sie, wo geht man wieder von ihr weg und so weiter. Also das war ein großes Thema eigentlich für den ganzen Film, diese Ambivalenz zwischen Melancholie und Heiterkeit und zwischen Distanz und großer Zuneigung.
Wellinski: Muss aber schlimm sein für jemanden, der sich so sehr mit Zeitverschwendung und Langeweile auseinandersetzt, am Set zu sein, wo die Effizienz alles diktiert.
Pörksen: Macht aber auch großen Spaß. Ich leb ja auch nicht das, was in dem Buch steht, ich arbeite ja auch sehr viel und arbeite auch sehr gerne, und an dem Filmset, das hat einen ungeheuren Spaß gemacht tatsächlich, auch dieser Druck hat Spaß gemacht. Manchmal war es natürlich zu viel und man hätte sich mehr Zeit gewünscht für bestimmte Szenen, aber im Grunde setzt das ja auch eine Kraft frei.
Wellinski: Julian Pörksen, Regisseur des Spielfilms "Whatever Happens Next", ab Donnerstag dann in den deutschen Kinos zu sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.