Das Tentative Collective aus Pakistan gestaltete das Projekt "Digging Deep, Crossing Far". Mit Hajra Haidar, Yaminay Chaudhri und Fazal Rizvi hat Stephan Karkowsky im "Kompressor" gesprochen. Audio Player
Wenn der Dschihad einen deutschen Klang erhält
Cartoons, Installationen, Collagen: Mit der Ausstellung "Digging Deep Crossing Far" erinnern Künstler in Berlin an das sogenannte "Halbmondlager". Dort wurden im Ersten Weltkrieg außereuropäische Kriegsgefangene festgehalten - und für Propagandazwecke benutzt.
"Geh nicht, geh nicht, oh mein Freund. Nur die Dummen packen und gehen fort. Oh Liebster! Allah gibt Brot und Arbeit im kühlen Schatten deines eigenen Landes."
Es ist ein vergeblicher, ungehörter Dialog. Auf der einen Seite die Frauen, Mütter und Schwestern indischer Soldaten, die in den Dörfern Lieder sangen, in denen sie die Männer anflehen, nicht in den fremden Krieg zu ziehen. Und auf der anderen Seite die Stimmen von Männern, die von der Front an ihre Familien schrieben, voller Trauer und Sehnsucht.
Die Lieder der Frauen sind vergessen, die Briefe der Soldaten, in denen sie von den sinnlosen Kriegsgräueln erzählen, wurden zensiert und erreichten nie ihre Adressaten.
Fiktives Gespräch als Klanginstallation
Die pakistanische Künstlerin Bani Abadi hat sie in ihrer Klanginstallation "Memorial to Lost Words" in einem fiktiven Zweigespräch wieder zum Leben erweckt:
"Die Stimmen der Frauen stammen aus dem Archiv eines Dichters, den ich getroffen habe, er hat diese alten Lieder gefunden, die vor hundert Jahren gesungen wurden. Aber es gab sie nur noch in Versform. Er hat sie mir auf Papier gegeben, und da habe ich beschlossen, sie neu einsingen zu lassen. Hundert Jahre später war es, als seine die Geister dieser Frauen auferstanden. Das Lied der Männer ist ein neues Gedicht, aber es basiert auf den alten Feldpostbriefen."
"Digging Deep Crossing Far" heißt das Kunstprojekt, das sich einem vergessenen Narrativ des Ersten Weltkrieges annimmt: Dem sogenannten "Halbmondlager", in dem das Deutsche Reich bei Zossen/Wünsdorf außereuropäische, vor allem muslimische Kriegsgefangene aus den britischen und französischen Kolonien internierte. Dort wurden sie einerseits wie Exoten zur Schau gestellt, andererseits Teil einer extra für den Orient entwickelten Dschihad-Strategie, mit der die muslimischen Völker überzeugt werden sollten, zu den Deutschen überzulaufen und sich gegen die Kolonialmächte zu erheben.
Eine Moschee für die Gefangenen
Das Kaiserreich inszenierte sich als Islam-Freund, sogar eine Moschee baute man dort für die Gefangenen. Deutsche Wissenschaftler nutzten die Gelegenheit, um die Kultur und Sprachen der exotischen Gefangenen zu studieren. Im Lautarchiv der Humboldt-Universität befinden sich 1650 Tonaufnahmen von Gefangenen, die der Sprachwissenschaftlers Wilhelm Doegen 1915 und 1916 aufgenommen hat.
Nach dem Krieg wurde das Lager abgerissen – heute befindet sich, Ironie der Geschichte, ein Erstaufnahmelager für Asylsuchende an der Stelle. Kuratorin Julia Tieke war vor einigen Jahren im Zuge eines Radiofeatures auf den Ort aufmerksam geworden:
"Ich war eben fasziniert von der Geschichte die da drin steckt und auch den Archiven die es hier gibt, und sehr schnell hatte ich die Grundidee zu sagen, wir haben hier diese Archive mit Tonaufnahmen deren Sprachen wir nicht verstehen, wir haben diese Tonarchive, das ist eigentlich Material das interessant wäre von Künstlern aus den Ländern bearbeitet zu werden, aus denen die Soldaten kamen."
Unerzählte Geschichten jenseits der Propaganda
Die Rückspiegelung durch den Blick zeitgenössischer junger Künstler auf ihre eigene – auch zu Hause zum großen Teil vergessene - Geschichte schafft zum Teil überraschende zusätzliche Bedeutungsebenen. In den Cartoons, Videoinstallationen, Fotocollagen, Wandteppichen wird vor allem nach den unerzählten Geschichten jenseits der Propaganda gefragt. In den Comicstrips von Sarnath Banerjee blicken die Sepoy, die indischen Kolonialsoldaten, befremdet und ironisch auf die durchsichtigen deutschen Dschihad-Manöver. Das pakistanische Künstlerkollektiv "The Tentative Collective" spürt in den archivierten Tondokumenten nach Hinweisen von Subversion und Widerstand gegen die Wissenschaftler und führt sie fiktiv weiter:
"Diese abwesenden Momente, die bei der Übersetzung verloren gingen. Was außerhalb des Skripts gesagt wurde. Ein paar Dinge, die einfach nicht verstanden wurden. Und das hat uns dazu gebracht, gezielt auf diese unbemerkten Momente zu schauen, auf die Gefühle und das Leben im Camp und auf das, was nicht kontrolliert und nicht aufgezeichnet wurde."
Berlin ist die letzte Station des Projekts – zuvor hat es bereits Ausstellungen in Bangalore und Kochi, Indien und in Karachi, Pakistan gegeben. Auch in den Heimatländern ist das Schicksal der Sepoy nahezu vergessen, erzählt der pakistanische Künstler Ayaz Jokhio:
"Als ich eingeladen wurde, mitzumachen, war ich zuerst nicht wirklich interessiert an dem Thema. Aber als ich anfing, zu lesen, worum es ging, fand ich es sehr inspirierend. Wegen all der Strategien, die im Ersten Weltkrieg angewandt wurden, wie der Dschihad und wie sie religiöse Gefühle für ihre Zwecke benutzt haben. All das passiert heute in der Welt noch genauso.
Fazit: Eine Ausstellung, die zum Perspektivwechsel auf vielen Ebenen einlädt, und die nebenbei Einblicke in eine äußerst lebendige und kreative indische und pakistanische Künstlergeneration ermöglicht. Und nach der der Begriff Dschihad einen neuen, sehr deutschen Klang bekommt.
Die Ausstellung "Digging Deep, Crossing Far 3rd Encounter Berlin" ist vom 10. September bis 13. November 2016 im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien in Berlin zu sehen.