Design Museum London: "Electronic: From Kraftwerk to The Chemical Brothers"
Vom 31.7.2020 bis 14.2.2021
Musik als Durchhalteparole
05:40 Minuten
Nach vier Monaten sind die großen Museen Londons wieder geöffnet. Das Design Museum widmet sich in der Ausstellung "Electronic" der Geschichte elektronischer Musik. Es wirkt, als wäre das Museum der letzte Zufluchtsort der Clubkultur in der Coronakrise.
Die Party könne losgehen, meint die freundliche Assistentin des Design Museum, als ich die finsteren Räume der Ausstellung "Electronic – From Kraftwerk to the Chemical Brothers" betrete. Die Ironie der Lage lässt sich nicht verfehlen. Sie hämmert mir förmlich auf den Kopf, mit einer Frequenz von jenseits der 120 Beats pro Minute.
Denn die Sounds, die hier zu hören sind, dürfen in Großbritannien derzeit eigentlich nur im privaten Eigenheim erklingen. Clubs sind immer noch gesperrt, Freiluft-Raves sowieso illegal, auch die Gastronomie muss leise sein.
Der distanzlose Leichtsinn von früher
Dementsprechend unweigerlich weckt schon das erste Bild der Ausstellung, Fotograf Andreas Gurskys Blick von oben auf das tanzende Menschenmeer beim Union Rave in Düsseldorf 1995, das einem von der Coronakrise antrainierte Unwohlsein – beim Anblick von derart distanzlosem Leichtsinn.
Die dominante Musikkulisse sorgt indessen dafür, dass vor den Schaukästen ziemlich laut miteinander kommuniziert wird – eigentlich einer der Hauptgründe, warum Clubs im Gegensatz zu Museen weiterhin gesperrt bleiben.
Aber dieser Risikofaktor ist hier wohl unvermeidlich. Schließlich ist bei körperlich spürbarer Lautstärke konsumierte Tanzmusik der zentrale Bezugspunkt der hier ausgestellten Flyer, Plattencover und exzentrischen Outfits, darunter übrigens auch eine ganze Wand voller ausgefallener Masken – nur eine von vielen ungeplanten Ironien, die auch der Kuratorin des Design Museum, Gemma Curtin, nicht entgangen sind.
"Es ist eine eigenartige Zeit für dieses Thema, jetzt, da Covid-19 in der Welt sein Unwesen treibt. Schließlich geht es um Dance Culture – eine Kultur, in der sich eine Community durch ihre Liebe zur Musik versammelt. Vielleicht werden wir durch das Social Distancing weniger Menschen in unserer Galerie haben können als uns lieb wäre. Wir wollen, dass die Leute sich wohl und sicher fühlen. Aber es gibt in der Ausstellung schon auch Momente, wo man tanzen kann, wie etwa die auf Licht reagierende Installation ,Core' von 1024 zu einem fünf Stunden langen, von Laurent Garnier gemixten Soundtrack, der die verschiedenen Kapitel der Geschichte elektronischer Musik umfasst."
Ist die Dance Culture jetzt museumsreif?
Das von Curtin erwähnte, französische Kollektiv 1024 und seine Installation Core ist eine von vielen Attraktionen der Show, die das Design Museum direkt von der 2019 in der Philharmonie de Paris abgehaltenen Ausstellung "Electro" übernommen hat, so wie etwa auch Jean-Michel Jarres Sammlung historischer Synthesizer oder der ebenfalls von 1024 konzipierte "Walking Cube" – ein hydraulischer Zylinder, der selbsttätig zu Musik tanzt, bloß, wie man hört, nicht unbedingt im Takt.
Ein entscheidender Unterschied zwischen der Londoner Ausstellung und ihrer Pariser Vorgängerin ergibt sich aus ihrem Untertitel: Versprach "Electro" in Paris eine musikalische Reise von Kraftwerk zu den französischen Aushängeschildern Daft Punk, so führt in London bei "Electronic" der Weg von Kraftwerk zu den britischen Chemical Brothers.
Der letzte Raum ist ganz ihrem Song "Got to Keep On" gewidmet, für den die Visuals-Künstler Smith & Lyall eine aufwendige Licht- und Filmshow inszeniert haben. Im Kontext der Zeit klingt diese mantrisch wiederholte Aufforderung zum Weitermachen allerdings weniger nach endlosem Hedonismus als nach einer verzweifelten Durchhalteparole.
Dass als vorläufiger Endpunkt der elektronischen Evolution ausgerechnet die schon seit drei Jahrzehnten aktiven Chemical Brothers ausgewählt wurden, passt ja auch kaum zur futuristischen Zukunftsmusik-Rhetorik der Schau. Voriges Jahr hätte man sowas noch kritisiert, heute wirkt es nur allzu passend. Denn am Ende drängt sich die traurige Frage auf: Hat Corona die Dance Culture, wie wir sie einst kannten, tatsächlich auf Dauer museumsreif gemacht?