Die Ausstellung "Geschichte der Kindheit im Heim" ist noch bis zum 31. März 2018 zu sehen. Sie ist ein Kooperationsprojekt zwischen der Stiftung "Großes Waisenhaus zu Potsdam", der Fachhochschule Potsdam und dem Filmmuseum Potsdam. Die Fachhochschule begleitet die Schau mit einer Vortragsreihe. Das Filmmuseum zeigt Filme zum Thema Heimerziehung.
Der Macht der Erzieher ausgeliefert
Rechtlos, weggesperrt oder als billige Arbeitskräfte ausgebeutet – die Schau "Geschichte der Kindheit im Heim" beschreibt die Situation aus dem Blickwinkel der Kinder. Sie ist in Potsdam zu sehen und schlägt einen Bogen vom Kaiserreich bis in die 70er-Jahre.
Das Gebäude des ehemaligen Großen Militärwaisenhauses ist heute eines der Wahrzeichens Potsdams und eines seiner größten geschlossenen Barockensembles. Preußens König Friedrich Wilhelm I. hatte das Waisenhaus 1724 gestiftet, als Erziehungs- und Ausbildungsstätte für Soldatenkinder und Militärwaisen. Die Kinder sollten hier Christentum, Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Dass sie auch menschliche Zuwendung, Zärtlichkeit und Vertrauen erfuhren, darf bezweifelt werden. So schilderte es auch der Sozialpädagoge und Therapeut Manfred Kappeler in seinem Eröffnungsvortrag:
"Für jedes Mädchen und jeden Jungen war es zu jedem Zeitpunkt der Geschichte der Heimerziehung von existenzieller Bedeutung, ob das Leben im Heim ihm überwiegend Erfahrungen des Anvertrautseins oder des Ausgeliefertseins vermittelt hat."
Die Gesellschaft schaute lange tatenlos zu
Über Jahrhunderte hinweg waren Kinder im Heim der Gnade der Erwachsenen ausgeliefert: In den kirchlichen Findelhäusern des Mittelalters starben mehr als die Hälfte der Jungen und Mädchen schon im ersten Lebensjahr. Aber auch noch im 18. Jahrhundert im Militärwaisenhaus in Potsdam schufteten die Mädchen so hart für eine Klöppelfabrik, dass viele krank wurden. Elternlose Kinder waren rechtlos und die Gesellschaft schaute lange tatenlos zu. Öffentliche Kritik kam erst Ende des 18. Jahrhunderts auf, erklärt die Wohlfahrtshistorikerin Sabine Hering, Initiatorin und Kuratorin der Ausstellung:
"Es gibt Aufbrüche, die durchaus zu fortschrittlichen Formen und menschenwürdigen Formen geführt haben, seit der Aufklärung, teilweise dann natürlich durch die Jugendbewegung Reformpädagogik. Und dann gibt es aber immer wieder Einbrüche, teilweise durch die Kirchen, die natürlich keine fortschrittliche und auch keine auf Eigenständigkeit und Individualität aufbauende Erziehung der Kinder unbedingt befürwortet haben."
Die umfangreiche Schau im prächtigen barocken Treppenhaus des Militärwaisenhauses versucht die Situation in den verschiedenen Epochen aus dem Blickwinkel der Kinder und Jugendlichen zu beschreiben.
Sie zeigt anhand vieler Textstellwände und weniger Exponate, wie die Industrialisierung dazu führte, dass Heimkinder als billige Arbeitskräfte verheizt, die ersten Gesetze zum Schutz der Kinder dabei untergraben wurden.
"Dann gibt es die Erfindung der Eugenik, und damit war dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein ganz düsteres Kapitel eingeleitet, nämlich der Begriff der Verwahrlosung, der ja nichts Konkretes bedeutet, sondern so nebulös ist, dass jeder – Erzieherin, Erzieher, jeder Richter – das auslegen kann, wie es gerade nötig erscheint."
Missliebige Kinder konnten so leicht weggesperrt werden, egal, ob sie Eltern hatten, oder nicht. Auf Schwarz-Weiß-Fotos aus den 20er-Jahren sieht man die angeblich Verwahrlosten kahl geschoren stramm stehen. Dann kamen die Nationalsozialisten an die Macht.
"Repressive Pädagogik" in beiden deutschen Staaten
"Die haben die Eugenik sehr tatkräftig umgesetzt. Es gab Kinder- und Jugend-KZs und es gab natürlich auch die Euthanasie-Programme für sogenannte behinderte Kinder. Interessant ist, dass es eigentlich nach '45 nicht besonders reformiert weiterging. Die tatsächlichen roten Fäden der repressiven Pädagogik, die in vielen Heimen angewendet wurden, die zieht sich hin vom Kaiserreich bis in die 70er-Jahre."
Und das in beiden deutschen Staaten. Der Kindheit in den Heimen der DDR ist in der Ausstellung ein eigener Abschnitt gewidmet. Studierende der Fachhochschule Potsdam haben dafür ehemalige Insassen des berüchtigten Jugendwerkhofs Torgau befragt, in dem gefängnisartige Zustände herrschten.
Zeitzeugin: "Es war ja alles verboten. Man hat sich zwar durch die Zellentür mit dem Nachbarn unterhalten, wenn es einen gab, aber alles wurde bestraft."
Zeitzeuge: "Die Erzieher hatten diesen Arrest selbst 'Hölle' genannt. Und für uns Kinder war es die Hölle."
Für die angehenden Sozialarbeiter waren diese Begegnungen wichtige Erfahrungen, sagt die Studierende Anna Sporleder:
"Wir konnten auf jeden Fall ganz viel von den Gefühlen und von den Emotionen, die wir während der Interviews hatten, reinstecken in Energie, um die Ausstellung hier vorzubereiten. Aber ich glaube, dass es halt ein Riesenunterschied schon ist. Wir sind da jetzt schon ein Riesenstück weiter."
Tatsächlich seien Gewalt und Missbrauch heute in Heimen nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme, bestätigt die Kuratorin Sabine Hering:
"Aber es gibt immer wieder auch Skandalfälle, wo man sagt: Warum hat da keiner hingeguckt? Warum erfahren wir das jetzt erst? Das gilt für den ganzen Bereich sexuelle Gewalt, der durch die Odenwaldschule relativ früh erst mal thematisiert, aber dann auch ganz schnell wieder unter den Teppich gekehrt wurde. Und die Frage der sexuellen Gewalt ist eigentlich bis heute zwar aufgearbeitet und es gibt eine Kommission und eine Bundesbeauftragte, aber eine Entschädigung haben die Opfer bis heute nicht bekommen."
Obwohl viele von ihnen bis heute schwer traumatisiert sind, von ihrer "Kindheit im Heim".