Junge Häftlinge erklären Anne Frank
In einem der größten Jugendgefängnisse Deutschlands, in Hameln, findet derzeit eine Ausstellung über Anne Frank statt, die von "draußen" besucht werden kann. Die Führungen machen Häftlinge. Und das nicht nur, weil sie so etwas über Geschichte lernen.
"Ich sag jetzt mal ehrlich, da lässt man sich doch schnell ablenken!"
"Genau, da musst ihr natürlich aufpassen!"
"Genau, da musst ihr natürlich aufpassen!"
17 junge Männer sitzen in einem Stuhlkreis und debattieren aufgeregt miteinander. Zwei Pädagogen und zwei Justizvollzugsbeamte in blauer Uniform sitzen dazwischen. Im größten deutschen Jugendgefängnis in Hameln werden diese jungen Häftlinge gerade zu sogenannten Peer Guides ausgebildet. Sie sollen demnächst gleichaltrige Gruppen durch eine Anne Frank-Ausstellung führen. Wochenlang haben sie sich auf das Seminar vorbereitet, das Tagebuch gelesen, Dokumentationen geschaut.
Pädagogin: "Welche Situation stellt ihr euch schwierig vor? Was, wovor habt ihr vielleicht noch Angst, was mache ich wenn … Alex?"
Alex: "Ja, also wenn ich eine Frage bekomme und die Antwort nicht weiss? Also, man wird dann ja auch nervös und ich weiss nicht, was ich dann machen soll."
Alex: "Ja, also wenn ich eine Frage bekomme und die Antwort nicht weiss? Also, man wird dann ja auch nervös und ich weiss nicht, was ich dann machen soll."
Auf den ersten Blick haben die jugendlichen Häftlinge wenig mit Anne Frank gemeinsam. Dort das bürgerlich erzogene jüdische Mädchen, das ihr Schicksal als verfolgte Jüdin in ihrem Tagebuch beschreibt, und hier die jungen Männer, alle zwischen 16 und 24 Jahren alt, die wegen Diebstahl, Drogenhandel, Raubüberfällen oder Totschlag inhaftiert sind. Viele von ihnen Schulabbrecher. Aber wie harte Jungs wirken sie an diesem Vormittag gar nicht. Im Gegenteil. Sie sind angespannt, nervös.
Dietmar Müller: "Ja, das Problem unserer, der meisten unserer Gefangenen - man kann das alles nicht immer verallgemeinern - ist kein übersteigerter Selbstwert, auch bei Gewalttätern nicht, sondern ist genau eher das Gegenteil. Spannend ist natürlich bezogen auf diese Problematik dann der Ansatz Peer Guide - das heißt, die jungen Leute lernen sehr viel über Geschichte, auch politische Hintergründe, aber was sie eben auch erwerben, ist eine hohe soziale Kompetenz: Anderen etwas erzählen, sich auch anbieten, auch in der Konfrontation, indem sie eben Gefangene und Jugendgruppen durch die Ausstellung führen. Und wir wissen aus Untersuchungen, wenn es gelingt, mit positiven Mitteln, auf positive Art und Weise, den Selbstwert zu steigern, dann ist das eine gute Basis auch gegen Rückfalltendenzen."
Dietmar Müller ist für die Förderung der Jugendlichen verantwortlich und hat die Ausstellung in die Jugendanstalt Hameln geholt. Für die Häftlinge bedeutet das Seminar vor allem: Abwechslung, Ausbruch aus dem streng reglementierten Alltag: Aufstehen, Schule, Ausbildung, Freistunde, dann wieder Einschluss in die Zellen. Handys und Computer sind im Gefängnis nicht erlaubt, Fernsehen und Radio nur zu bestimmten Zeiten.
Er wußte vorher nichts über den Nationalsozialismus
Das zweitägige Seminar ist beendet. Gleich werden die Jugendlichen wieder in ihre Zellen gebracht. Vorher rauchen viele noch schnell eine Zigarette draußen. Hier auf dem weitläufigen Innengelände der JA gibt es Bäume, Bänke und sogar einen Sportplatz. Marcel, 20 Jahre, dunkle verträumte Augen, ist wegen wiederholten Einbruchs und Diebstahls zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Über Anne Frank und den Nationalsozialismus wusste er vorher so gut wie nichts:
"Also dieses Seminar an sich hat mich selbstbewusster gemacht, für später auch. Also wenn ich jetzt die ganzen Leute da durch die Module führe. Aber es hat mich auch todtraurig gemacht. Ich habe gesehen, auch in diesen ganzen Filmen, wie krank wir Menschen sein können. Und dass wir sowas machen! Wir Menschen! Das ist total krank."
Anne Franks wichtigstes Zitat: "Lasst mich ich selbst sein"
"Ich wünsche ihnen allen viel Freude, eine interessante und lehrreiche Ausstellung, bedanke mich für ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns jetzt noch eine schöne Zeit."
Die Ausstellung ist eröffnet. Gleich sollen die Peer Guides ihre erste Führung machen. Eine Ministerin, der Bürgermeister, Landräte, ein paar Familien, eine Schulklasse und sogar einige Journalisten sind gekommen. Die 17 Jugendlichen stehen vor den Ausstellungsplakaten und begrüßen die Gäste. Alle tragen jetzt dieselben weissen Kapuzenpullis. Auf dem Rücken steht in schwarzer Schrift: 'Lasst mich ich selbst sein'.
"So, ich fang mal jetzt an: Ich bin ein Guide von diesem Projekt 'Anne Franks Lebensgeschichte'. Das wichtigste Zitat von dieser Lebensgeschichte ist: Lasst mich ich selbst sein. Anne Frank wurde immer gesagt, was sie zu tun hatte. Ihr wurde immer alles vorgeschrieben, wie sie was zu machen hatte von ihren Eltern. Aber irgendwann hat sie gesagt: Lasst mich einfach in Ruhe, lasst mich einfach ich selbst sein. Dann fühle ich mich zufrieden."
Alex traut sich als Erster. Er erklärt die Tagebuchaufzeichnungen, die im Amsterdamer Versteck entstanden sind, beschreibt die Gefühle von Anne Frank in der beengten Situation, ihre Sehnsucht nach Freiheit und einem ganz normalen Leben als Teenager. Die Besucher hören ihm aufmerksam zu. Das gibt Alex Sicherheit. Er spricht immer lockerer. Von Nervosität ist jetzt nichts mehr zu spüren.