Eine Kulturgeschichte der Beschneidung
In einer schrillen Debatte zum Thema Beschneidung wurden Juden und Muslime in Deutschland als Kinderschänder und Barbaren beschimpft. Als Reaktion darauf zeigt das Jüdische Museum Berlin nun eine Ausstellung - mit dem doppeldeutigen Titel "Haut ab!".
Eliyahu Ungar-Sargon, ein jüdisch-amerikanischer Filmemacher, konfrontiert seinen Vater, einen orthodoxen Juden, mit einer heiklen theologisch-medizinischen Frage. In dieser ergreifenden Szene aus seinem Dokumentarfilm "Cut: Slicing Through the Myths of Circumcision", der im Medienraum der Ausstellung über Beschneidung zu sehen ist, erinnert sich der Vater mit leuchtenden Augen an jenen Sommertag, an dem er seinen ersten Sohn Eliyahu beschneiden ließ. Eliyahus Großvater, dessen Namen er trägt, war der Pate. Und der Beschneider oder Mohel war ausgerechnet derselbe Rabbiner, der bereits Eliyahus Großvater und seinen Vater beschnitt.
Nun aber fragt Eliyahu seinen Vater, einen Neurologen, wie er dazu stehen würde, wenn er seinen Sohn nicht beschneiden ließe. "Ich wäre erschüttert", sagt der alte, fromme Mann. "Denn es geht um ein elementares Ritual, das zentral ist für die jüdische Identität." Dieses Ritual, obwohl schmerzhaft, sei für ihn sehr wichtig. Denn der medizinische Schaden durch den Eingriff sei wesentlich geringer als der Ausstoß des unbeschnittenen Enkels aus der orthodoxen Gemeinde, wo er als Außenseiter mit viel Spott zu rechnen habe. Eliyahu, der Sohn, sieht das genau umgekehrt.
Jeder dritte Mann wird beschnitten
Dieser freundliche, sachliche und respektvolle Disput unter zwei Juden über die Bedeutung des Bundes der Beschneidung oder der Brit Mila ist meilenweit entfernt von der schrillen Beschneidungsdebatte 2012. Dabei wurden Juden und Muslime in Deutschland als Kinderschänder und Barbaren beschimpft. Als Reaktion darauf organisierte das Jüdische Museum Berlin die erste Ausstellung zur rituellen Beschneidung und nannte sie ausgerechnet "Haut ab!"
Programmdirektorin Cilly Kugelmann:
"Die Doppeldeutigkeit von ‚Haut ab‘ bezieht sich aus der jüdischen Perspektive auf die Aufforderung, die so aufgefasst wurde von vielen jüdischen Stimmen, dass man hier gefälligst abhauen soll und ‚Haut ab‘ natürlich die Haut, die abgemacht oder die abgeschnitten wird."
Dass jeder dritte Mann beschnitten wird, erfährt der Besucher gleich am Eingang neben einer Weltkarte, die die Ausbreitung des Rituals darstellt. Skulpturen nackter Männer verdeutlichen die unterschiedlichen Funktionen der Beschneidung in Afrika, Australien und Nordamerika.
Auf einem runden Podest, das sich als Ausstellungsfläche durch drei Räume zieht, wird die Beschneidung in den drei monotheistischen Religionen durch wertvolle Objekte präsentiert.
Momente größter Freude und Sorge
Auf einem Thora-Vorhang aus dem 18. Jahrhundert wird die Opferung Isaaks dargestellt. Unter diesem Bild beschneidet Abraham seinen Sohn. Dieser Bund mit Gott wird klar als humaner Gegensatz zum rituellen Menschenopfer in anderen Kulturen präsentiert. Ein vergoldeter Doppelbecher eines jüdischen Beschneiders oder Mohel weist wiederum auf die Folge des "Bunde der Beschneidung" oder "Brit Mila". In den einen Becher tröpfelt ein wenig Blut des acht Tage alten Knaben; in den anderen tunkt der Mohel seinen Finger in den darin enthaltenen Wein und lässt ihn in den Mund des Kleinen tröpfeln, damit es sich sofort beruhigt.
Anschließend segnet man mit dem Wein "den Freund aus dem Bauch", wünscht ihm ein gesundes Leben und der Vater verkündet zum ersten Mal den Namen des Kindes.
Diese Momente größter Freude und Sorge um den Knaben lassen sich durch die verschiedenen Amulette erahnen, die man um sein Bett hing und die hier ausgestellt werden.
Auf die Gesichter der Beschnittenen blickt man im Abschnitt über die muslimische Beschneidung, wo eine Fotoserie eine Massenbeschneidung in einem Kölner Sportsaal dokumentiert. Ein etwa Siebenjähriger liegt auf einem Bett neben dem Beschneider, der einen weißen Kittel trägt. An der Wand hinter ihnen ein überdimensionales Porträt von Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei.
Antisemitische Umdeutungen des Rituals
In einem Buch aus dem 17. Jahrhundert wird eine Beschneidung dezent, wenn auch etwas unrealistisch dargestellt: Der Beschneider kriecht nämlich unter das weiße Gewand des Jungen. In der Überlieferung des Koran wird die Beschneidung mit Bezug auf den Bund Abrahams als eine religiöse Pflicht beschrieben, die daher nicht gegen die Unversehrtheit des Körpers, ein hohes Gut im Islam, verstößt.
Der Islam schreibt den Zeitpunkt der Beschneidung nicht vor, sagt Kuratorin Martina Lüdicke:
"Der Zeitraum ist nicht festgelegt. Man sagt, dass es vor der Pubertät gemacht werden soll. Es gibt Überlieferungen, die sagen, dass die Jahreszahl des Kindes nicht zweistellig werden soll. Aber es gibt gerade in säkularen Kreisen die Tendenz, das auch direkt nach der Geburt machen zu lassen, um das nicht mit einem großen Fest zu verbinden, sondern als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppierung."
Die eindrucksvollsten Darstellungen der Beschneidung findet man ausgerechnet im Kapitel über deren Rezeption im Christentum. Vor allem das Bild des flämischen Meisters Peter Paul Rubens ist hier eine Augenweide.
Bis 1969 begingen die Katholiken am 1. Januar das Fest der Beschneidung Jesu, die in manchen Kunstwerken hier als Teil der Passion dargestellt werden. Wohin antisemitische Umdeutungen des Rituals führen können, sieht man in einem Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert, der den angeblichen Ritualmord an sechs christlichen Knaben zeigt - durch Juden. Die Nazi-Hetzschrift "Der Stürmer" stellte dieses Bild auf seine Titelseite im Mai 1939 unter der Überschrift "Das größte Geheimnis des Weltjudentums".