Ausstellung in Bremerhaven

Wie sich Migrationsgeschichten gleichen

Gastarbeiter aus Jugoslawien auf einem Bahnsteig des Frankfurter Hauptbahnhofs am 15.12.1972.
Gastarbeiter aus Jugoslawien auf einem Bahnsteig des Frankfurter Hauptbahnhofs am 15.12.1972. © pa/dpa/UPI
Von Almuth Knigge |
Eine Ausstellung in Bremerhaven vergleicht zwei Migrationsgeschichten: 1709 strömten die Deutschen massenhaft nach England, um in die Kolonien auszuwandern. In den 1970er-Jahren zogen Hunderttausende Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Der Vergleich offenbart bestimmte Muster der Integrationsdebatte.
Es ist Sommer. Innerhalb weniger Wochen kommen tausende Menschen ins Land, um vor Hunger, Krieg und Hoffnungslosigkeit zu fliehen. Sie halten das Bild der Regierungschefin in die Höhe – voller Zuversicht, hier die dringende Hilfe und eine Perspektive für die Zukunft zu erhalten.
Es ist der Sommer 1709. Innerhalb weniger Wochen kommen über 12.000 Menschen nach England und wollen von Queen Anne Land in den Kolonien. Sie kommen aus Südwestdeutschland und fliehen vor den Folgen des spanischen Erbfolgekrieges Richtung England über Rotterdam. Der dortige britische Gesandte James Dayrole schrieb an seine Königin.
"Sie können halb Deutschland haben, sie fliehen alle."
Schon in den Monaten zuvor tobte unter den Briten eine heftige Debatte, ob und wie man die durchaus dringende Einwanderung und Ansiedelung organisieren sollte. Im Mai 1709 war ein Einwanderungsgesetz beschlossen worden, das vorsah, deutsche Protestanten für den Dienst in den Kolonien aufzunehmen.
Zunächst reagierten die Briten positiv auf den unablässigen Zustrom aus Deutschland. Sie gründeten einen Charity-Verein, verteilten Bibeln auf Deutsch – doch nach ein paar Wochen kippte die Stimmung…
"Wenn sie weiter so schnell und in so großer Zahl rüberkommen wird es unmöglich, die Last für so viele weitere Leute zu tragen, so dass der Erfolg der ganzen Sache vereitelt werden könnte."
Die Unterbringung und die Versorgung wurde schwieriger. Die Palatines, die Pfälzer, mussten in Zeltlagern im Süden von London übernachten. Die Londoner kamen vorbei, begafften sie wie Tiere im Zoo, bespuckten und beschimpften sie. Und der britische Schriftsteller Daniel Defoe fragte öffentlich: "Was sollen wir mit ihnen machen?"
Debatte um Aufnahmekapazitäten und Integration ist alt
Was sollen wir mit ihnen tun, fragten sich in den 1970er-Jahren auch deutsche Politiker, als sich abzeichnete, dass hunderttausende türkische Gastarbeiter plötzlich ihre Familien nachholten und begannen, sich ein Leben in der Bundesrepublik einzurichten. Das ist der zweite Teil der Ausstellung – mit zahlreichen Bild und Tondokumenten – und einer klaren Intention.
"Da geht es darum, dass wir uns anschauen wollen, warum ist es eigentlich so, dass in der Bundesrepublik viele Einwanderer mit ihrer Identität hadern und dass auch die Deutschen damit hadern, wie sie diese Einwanderer nennen wollen und wie sie mit ihnen leben sollen und dass es eigentlich nicht bei allen einen Konsens gibt, wir sind Einwanderungsland."
Parallelen zwischen der Auswanderung mit der aktuellen Situation sind nicht zufällig und es ist ein geschickter Schachzug, zwei so unterschiedliche Migrationsgeschichten miteinander zu verweben, wenn man, wie Simone Eick es anstrebt, einen gemäßigten Beitrag zur Debatte leisten will.
"Das ist ja die Idee zu sagen, liebe Besucher, die Deutschen waren mal in ähnlichen Situationen und das ist in den kommenden Jahrhunderten durchaus öfter vorgekommen."
Die Debatte um Aufnahmekapazitäten und Integration dauern also schon hunderte von Jahren, erklärt Dr. Simone Eick, die Direktorin des Auswandererhause in Bremerhaven, die mit ihren Mitarbeitern einen dreiteiligen Ausstellungszyklus erarbeitet hat.
"Und wir zeigen gerade im ersten Teil, wie wurde damit 1709 umgegangen, wer sagt wann, nein es ist genug…"
Das waren vor 300 Jahren Bevölkerung und Politik gleichermaßen.
Wenn Menschen als Naturkatastrophen dargestellt werden
"Und wir schauen uns im zweiten Teil an, wo ist es gescheitert. Wo ist das Bildungssystem gescheitert, wo ist die Politik gescheitert, wo war das Thema mediale Darstellung von Einwanderung ein Problem, das ist auch Thema im zweiten Teil, was heißt das eigentlich, wenn Menschen nicht als Menschen dargestellt werden, sondern als Naturkatastrophen."
Als Sintflut, als Überschwemmung, als Tsunami. Als Problem, als Krise.
Besucher vor dem Eingang zum Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven (aufgenommen 2008)
Besucher vor dem Eingang zum Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven© picture alliance / dpa / Wolfgang Weihs
Gewollt hatten die Regierungen beider Länder Arbeitskräfte: die Briten für ihre neuen Kolonien in Übersee, die andere für ihr westdeutsches Wirtschaftswunder.
Nach ein paar Jahren war das britische Projekt gescheitert und schon damals zeigte sich, dass es sehr gefährlich und unklug ist, Einwanderung nur als Wirtschaftsförderpolitik zu begreifen – und keine Integrationsmaßnahmen wie Bildung und Sprache finanzieren will.
"Wir haben hier 'ne Chance gehabt in den 70ern, die nicht genutzt worden ist, weil man sich vor den Kosten gescheut hat, und weil eine breite Öffentlichkeit immer noch gesagt hat, wir sind kein Einwanderungsland."
Die kleine überschaubare Ausstellung in Bremerhaven macht sehr deutlich, wie das Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft, im Verein, in der Schule, bei der Arbeit, aussieht, wenn sich die Wünsche und Bedürfnisse der Immigranten mit denen der Regierungen überkreuzen – und auseinander entwickeln. Und warum in Deutschland Einwanderer zu Fremden gemacht werden – dass diese sich dann deutsch und fremd zugleich fühlen
"Max Frisch hat es einfach wunderbar auf den Punkt gebracht, es ist immer noch gültig: Wir haben Arbeiter gerufen und es kamen Menschen."

Info: Die Ausstellung Plötzlich da. Deutsche Bittsteller 1709, Türkische Nachbarn 1961 ist vom 7. Dezember 2015 bis 31. Mai 2016 im Auswanderhaus Bremerhaven zu sehen.
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