Ausstellung in Tübingen

Schwestern und Brüder in der Kunst

05:34 Minuten
Schwarz-weiß Foto von drei kleinen Schwestern in weißen Kleidern, die skeptisch in die Kamera gucken.
Skeptische Blicke: Helga Paris "Ohne Titel" aus der Serie "Hellersdorf" von 1998. © Helga Paris / Courtesy Helga Paris Archiv & Kicken Berlin
Von Rudolf Schmitz |
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Geschwisterbeziehungen sind nicht immer leicht. Das zeigt "Sisters & Brothers. 500 Jahre Geschwister in der Kunst" in Tübingen. So blutig wie bei Kain und Abel muss es nicht zugehen: Manchmal mischen zwei Schwestern einfach nur ein Tanzlokal auf.
Wie unwiderstehlich sich die Geschwisterbeziehung gebärden kann, zeigt ein Film der tschechoslowakischen Regisseurin Vera Chytilová mit dem Titel "Tausendschönchen" von 1966. Zwei Schwestern stellen ein Tanzlokal auf den Kopf, nehmen ihre Verehrer aus, tanzen torkelnd auf der Brüstung ihrer Loge, betrinken sich maßlos, erregen Anstoß in jeder Beziehung und werden schließlich aus dem Lokal geworfen.
"Eine richtig anarchische Energie, die natürlich im Feminismus in dieser Gesellschaft aufkam, aber sehr anstößig war. Vera Chytilová kam für ihre rebellischen Filme sogar ins Gefängnis, aber dieser Film hat so eine künstlerisch kreative Anmutung", sagt die Leiterin der Kunsthalle Tübingen, Nicole Fritz.

Am Anfang steht die Eifersucht

Dabei fängt es in der Menschheitsgeschichte gar nicht gut an mit der Geschwisterbeziehung: Ein Kupferstich von 1589 nach Cornelis van Haarlem zeigt auf drastische Weise den Eifersuchtsmord von Kain an Abel, mit dem das Unheil der Tyrannei in die Welt kommt. Eine Federzeichnung von Romulus und Remus, von der Wölflin gesäugt, versucht Gegengewicht zu schaffen.
Die großformatige Bildtapete von Schadows skulpturaler Prinzessinnengruppe, von Luise und Friederike von Preußen, die sich schwesterlich liebevoll umarmen, demonstriert in dieser Ausstellung den Einzug der bürgerlichen Empfindsamkeit in die Gesellschaft und die allgemeine Wertschätzung von geschwisterlicher Zuneigung und Zärtlichkeit.
"Das ist eben Kunst als Auffangorgan des inneren und äußeren Lebens wie Aby Warburg es einmal so schön formulierte. Für mich sehr wichtig. Die Kunst als Spiegel der Gesellschaft zu befragen, was sagt sie aus über den Menschen. Das scheint mir bei der Geschwisterthematik sehr schön ablesbar", meint Fritz. 

Familienidylle statt ätzendem Spott      

Die Geschwisterbeziehung als utopische Denkfigur – das zieht sich durch diese Ausstellung, mit ihren zahlreichen Geschwisterporträts vom 17. Jahrhundert bis zu Otto Dix' spielenden Kindern von 1929, in denen der sonst spöttisch ätzende Maler plötzlich Familienidylle zelebriert. So kann man den Eindruck gewinnen, dass diese Ausstellung vielleicht ein bisschen zu harmoniesüchtig ist, uns die Geschwisterwelt als Paradies darzustellen versucht.
Schwarz-weiß Foto von einem Brüderpaar, das sich, auf einem Bett sitzend, in einer Dachkammer umarmt. Der eine Bruder küsst den anderen mit Begeisterung auf den Hals, der scheint nicht so angetan.
Bruderkuss, ganz ohne sozialistische Führer: Joanna Piotrowska "Frowst, IV" von 2013 - 2014. © Joanna Piotrowska, courtesy Southard Reid, London and Galerie Thomas Zander, Cologne
Das gibt Fritz auch unumwunden zu: "Das stimmt, ich hab vor allem versucht, das Positive, vor allem am Ende der Ausstellung, zu betonen, um Mut zu machen, um diese emotionale Thematik anzugehen und zu reflektieren. Wir haben aber auch von Miriam Cahn diese Serie, die sie ihrer Schwester gewidmet hat, die Selbstmord begangen hat. Wenn man sich tiefer in die Ausstellung hineinbegibt, wird man diese Aspekte auch entdecken". 

Bezaubernd, verblüffend, aber auch wegen der Spuren der Zeit und des Alterns durchaus melancholisch stimmend ist die Fotografie-Serie des US-Amerikaners Nicholas Nixon, der seine Frau und ihre drei Schwestern über einen Zeitraum von 46 Jahren, beginnend 1975, dokumentiert hat: in identischer Aufstellung und ähnlicher Pose.

Hieronymus Bosch in abstrakt

Präsentiert werden die "Brown Sisters" in kleinformatigen Abzügen. In größerem Format hätten dieser Schwesternclan vermutlich  noch eindrucksvoller gewirkt. Eine drei mal zwölf Meter große Leinwand, zusammengesetzt aus zahlreichen Holzdrucken, zeigt, wie sich die Künstlerbrüder Gert und Uwe Tobias die Geschichte von Kain und Abel vorstellen: ornamental, betörend farbig, mit abstrakt gewendeten Motiven von Hieronymus Bosch.

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Davor, als Bodenskulptur, ein ummauerter Swimmingpool von Thomas Schütte: "Vier Schwestern im Bad" von 1989. Die vier Frauenköpfe lassen sich als Allegorien von Nord und Süd, Ost und West interpretieren, jene Hemisphären, die jetzt, ohne Mauer, miteinander klar kommen müssen. Die Blicke der Schwestern jedenfalls wirken etwas ratlos.
„Die Arbeit von Thomas Schütte ist so spannend, weil da das individuelle, das kollektive Ereignis zusammenkommen. Und er dieses unglaublich aufgeladene, symbolische Ereignis des Mauerfalls 1989 dann eben auch völlig unterwandert“, sagt Fritz. 

Es brodelt im Untergrund

Das ruft in Erinnerung, wie oft die Geschwisterbeziehung politisch instrumentalisiert wurde, mit Begriffen wie „Brüder und Schwestern hinter der Mauer“, „Brudervolk“ oder öffentlichen Gesten wie dem Bruderkuss sozialistischer Führer. Ganz klar: Mit dieser Tübinger Ausstellung wird eine riesige Kiste emotionaler und gesellschaftlicher Energien aufgemacht.
Lässt sich das mit den Mitteln der Kunst in den Griff bekommen? Zweifellos nicht. Aber als „nervöses Auffangorgan“, wie Aby Warburg sie nannte, stellt sie verblüffend  deutlich vor Augen, welches mächtige Magma da im gesellschaftlichen und individuellen Untergrund brodelt.

Die Ausstellung "Sisters & Brothers. 500 Jahre Geschwister in der Kunst" läuft bis zum 16. April 2023 in der Kunsthalle Tübingen.

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