Museum of Modern Art
"Alibis: Sigmar Polke 1963-2010"
Bis 3. August
Mit dem Schimpftuch in New York City
Das Museum of Modern Art in New York, die Tate Gallery in London und das Museum Ludwig in Köln haben ein spektakuläres Ausstellungsprojekt realisiert: eine Retrospektive des deutschen Künstlers Sigmar Polke.
Sigmar Polke mochte Kartoffeln. Vielleicht auch in Form von Puffern, Fritten und Stampf. Ganz sicher jedoch als Material. In den fünf Jahrzehnten seiner Karriere hat der 2010 verstorbene deutsche Künstler Kartoffelhäuser gebaut, Kartoffelzeichnungen gemalt und einen Apparat entworfen, mit dem laut dem Erfinder "eine Kartoffel eine andere umkreisen kann". Die "olle Knolle" war eine Konstante in Polkes tausendgesichtigem Werk.
"Wenn man die Bandbreite der Medien betrachtet und dann den kompletten Überblick hat, gibt es eine sehr große Kohärenz an Motiven, an Arbeitsweisen."
Magnus Schäfer hat die Ausstellung "Alibis: Sigmar Polke 1963-2010" mitkuratiert. Mit über zweihundertfünfzig Exponaten ist dies eine der grössten Retrospektiven, die das Museum of Modern Art je einem Künstler gewidmet hat und die bisher umfangreichste Polke-Retrospektive überhaupt.
Malerei, Skulptur, Film, Fotografie, Performance: Sigmar Polke liess kein Betätigungsfeld unbeackert, kein Thema unberührt. Von der deutschen Geschichte bis hin zur Frage, was Kunst ist und was nicht:
"Es gibt eine sehr schöne Arbeit, die heißt "Telefonzeichnung", was eine, was eine Unterlage war auf einem Tisch neben einem Telefon, auf der die typischen Telefonkritzeleien zu sehen sind, die er dann in eine Arbeit integriert hat, mit Wasserfarben und Gouache übermalt hat. Und ich denke, da sieht man sehr schön, dass diese Schwelle zwischen Kunst und Nicht-Kunst immer flüssig war bei ihm und immer veränderlich war."
"Höhere Wesen befahlen: Rechte obere Ecke schwarz malen!"
Den Amerikanern gefiel dieser Nonkonformismus von Anfang an. Seinen ersten Soloauftritt in einer New Yorker Galerie hatte Sigmar Polke 1982. Zur selben Zeit begannen auch andere spätere Exportstars aus Deutschland in den Vereinigten Staaten auszustellen, Georg Baselitz etwa und Anselm Kiefer:
"Ich denke, dass jemand wie Kiefer oder Baselitz viel stärker als deutsche Künstler wahrgenommen werden, wohingegen selbstverständlich klar ist, dass Polke ein deutscher Künstler ist, aber es war immer klar, dass seine Arbeitsweise anders ist."
"Inwiefern?"
"Experimenteller, freier."
Gewisse Übersetzungsschwierigkeiten dürften dennoch bestehen. Zu Beginn der chronologisch eingerichteten Ausstellung hängt ein vier mal viereinhalb Meter großes Stück Stoff, auf das Polke eine exquisite Auswahl wüster Schmähungen gesprayt hat. "Das große Schimpftuch", so der Titel, ist des Deutschen unkundigen Besuchern genauso unverständlich wie die berühmte weiße Leinwand mit der schwarzen Ecke und der Aufschrift: "Höhere Wesen befahlen: Rechte obere Ecke schwarz malen!" Derlei Witzigkeiten mögen verloren gehen, aber Magnus Schäfer ist von Polkes Relevanz für eine jüngere Generation internationaler Künstler überzeugt:
"Die Art, wie er mit Bildern umgeht, die Art wie er mit Materialien umgeht, ich denke das ist was, was auch unabhängig von der Nationalität sich erschließt und was für viele Leute hier in Amerika auch wichtig ist, gerade für Künstler und Künstlerinnen hier in Amerika wichtig ist."
Diese Ausstellung zeigt Sigmar Polke als Meister von allem und seinem Gegenteil. Er wechselte vom Gegenständlichen zur Abstraktion, von Minikritzeleien zu Riesenformaten, von der Anlehnung an Klassiker zum Bruch mit ihnen.
"Seine Vorstellung davon, Künstler zu sein, bedeutet wirklich, Freiheit zu haben, zu experimentieren, sich nicht festzulegen. Was nicht heisst, keine Meinung zu haben. Aber sich eben nicht festlegen zu lassen und immer Fragen zu stellen, ohne notwendig Antworten zu liefern."
Mit dieser monumentalen Retrospektive ist Sigmar Polke die Aufnahme ins Pantheon der Kunst garantiert. Und dort sind Antworten unnötig, denn Fragen werden nicht mehr gestellt und Kartoffeln gibt es wie in Polkes Werk in allen Variationen.