Ein unverstellter Blick auf Sexualität
04:37 Minuten
Eine Ausstellung in Lübeck will neue Perspektiven auf Sex schaffen und Vorurteile abbauen. Sie wagt den Sprung auf drei Kontinente, beleuchtet unterschiedliche Jahrhunderte und liefert neue Erkenntnisse zum Keuschheitsgürtel.
Das Ausstellungsstück stammt aus Indonesien und ist knappe 40 cm hoch. Der obere Teil besteht aus einer Figur, die auf einem langen, senkrecht nach unten stehenden Horn zu sitzen scheint.
Ein altes Inventarbuch von 1904 weist das Objekt als "Deflorationsinstrument" für die Hochzeitszeremonie aus. Lars Frühsorge ist promovierter Ethnologe und Leiter der Lübecker Völkerkundesammlung. Zunächst habe man geglaubt, "dass Frauen mit diesem Instrument bei den Batak, einer Gruppe in Indonesien, quasi entjungfert wurden, um sie dann verheiraten zu können". Doch die Recherche habe gezeigt, dass der Sinn und Zweck ein ganz anderer sei, sagt Lars Frühsorge: "Es ist ein Behälter für Medizin! Und zwar Medizin gegen Schlangengift!"
Lars Frühsorge weiß, dass bis heute viele Europäer*innen Menschen aus Asien und Afrika exotische sexuelle Praktiken unterstellen. Wozu immer wieder auch der falsche wissenschaftliche Blick beigetragen hat. Mit der neuen Sonderausstellung "Sex und Vorurteil" will das Lübecker St.-Annen-Museum eine unverstellte Perspektive auf die Bedeutung von Sexualität und Gender in Asien, Afrika und Europa ermöglichen.
Ein Ausstellungsgegenstand ist ein Keuschheitsgürtel, der lange Zeit in der Folterkammer des Lübecker Holstentors gezeigt wurde und als Symbol für die Entrechtung der Frauen im tiefsten Mittelalter galt, sagt Frühsorge.
"Aber unsere neueren Recherchen zeigen: Keuschheitsgürtel haben eine ganz andere Bedeutung. Speziell bei diesem Stück ist es naheliegend, dass es sich eher um eine Art neuzeitliches Sexspielzeug handelt. Und es könnte auch ein Objekt sein, was im Zusammenhang mit Arbeitsschutz steht."
"Aber unsere neueren Recherchen zeigen: Keuschheitsgürtel haben eine ganz andere Bedeutung. Speziell bei diesem Stück ist es naheliegend, dass es sich eher um eine Art neuzeitliches Sexspielzeug handelt. Und es könnte auch ein Objekt sein, was im Zusammenhang mit Arbeitsschutz steht."
Er sollte nämlich zur Abwehr von übergriffigen Hausherren an adeligen Höfen, denen viele Frauen dort im 18. Und 19. Jahrhundert ausgesetzt waren, dienen.
Blick in die Gegenwart
Die Ausstellung will aber nicht nur in die Vergangenheit schauen, sondern auch den Bogen in die Gegenwart spannen. Von einer Doppelmoral in der heutigen Gesellschaft spricht die Hamburger Sexaktivistin Josefa Nereus, die den Blick auf Sexarbeiter*innen so zeichnet: "Oh, die Armen! Aber gleichzeitig möchte uns niemand als Nachbar haben. Niemand möchte uns als Bewerberin zum Beispiel in irgendeinem Job haben. Oder dass wir auf die Kinder aufpassen! Und das ist ganz fatal!"
Der Blick auf Sexualität, aber auch auf die Frage, ob ein Mensch nun Frau oder Mann ist, ist in vielen anderen Gesellschaften viel weiter und offener. Und das seit Jahrhunderten.
Der Blick auf Sexualität, aber auch auf die Frage, ob ein Mensch nun Frau oder Mann ist, ist in vielen anderen Gesellschaften viel weiter und offener. Und das seit Jahrhunderten.
Denkanstöße im Nonnenkloster
Trotz der weiten geografischen und zeitlichen Bezüge über drei Kontinente verfehlt die neue Lübecker Ausstellung nicht ihr Hauptziel: zum Nachdenken zu bewegen. Und eigene Vorurteile zu überprüfen. Und all dies in einem früheren Nonnenkloster, das in der Hansestadt zu Beginn des 15. Jahrhunderts gegründet wurde.
Eine der drei Ausstellungsräume zeigt Objekte vom afrikanischen Kontinent. Es sind Masken, die bei Initiationsritualen zum Einsatz kamen und Figuren, die die Fruchtbarkeit symbolisieren sollen. Oder ein großes Holzgefäß für Saatgut, auf dessen Deckel sich eine Frau mit gespreizten Beinen räkelt. Das Behältnis diente rituellen Zwecken, um eine reichhaltige Ernte zu sichern.
"Man sieht also, es geht hier nicht um Pornografie. Die Erotik, die wir in afrikanischer Kunst häufig sehen, ist nicht etwas, was unserer Erregung dienen soll. Sondern das ist etwas, was häufig eine politische, eine religiöse Aussage hat. Etwas, was über die Macht von Frauen etwas aussagt, etwas, was spirituelle Zusammenhänge erschließt."
Eine der drei Ausstellungsräume zeigt Objekte vom afrikanischen Kontinent. Es sind Masken, die bei Initiationsritualen zum Einsatz kamen und Figuren, die die Fruchtbarkeit symbolisieren sollen. Oder ein großes Holzgefäß für Saatgut, auf dessen Deckel sich eine Frau mit gespreizten Beinen räkelt. Das Behältnis diente rituellen Zwecken, um eine reichhaltige Ernte zu sichern.
"Man sieht also, es geht hier nicht um Pornografie. Die Erotik, die wir in afrikanischer Kunst häufig sehen, ist nicht etwas, was unserer Erregung dienen soll. Sondern das ist etwas, was häufig eine politische, eine religiöse Aussage hat. Etwas, was über die Macht von Frauen etwas aussagt, etwas, was spirituelle Zusammenhänge erschließt."
"Sailor Moon" und Lachbilder
Der dritte Raum beleuchtet vor den asiatischen Umgang mit Sexualität. Auch hier fällt der Mut zur Lücke auf, durch den natürlich nicht jedes Land und jede Zeit beleuchtet werden kann. Trotzdem sind die Auszüge aus einem historischen arabischen Sexhandbuch erhellend, das bereits im 15. Jahrhundert riet, ausreichend Zeit für das Vorspiel einzuplanen.
In einer Ecke hängen historische japanische Chungas. Die pornografischen Lachbilder wollten im 18. Und 19. Jahrhundert ironisch die Gesellschaft kommentieren und zeigen beispielsweise einen Beamten, der gewissenhaft die Penislängen im Kaiserreich vermisst.
Mit der Fernsehserie "Sailor Moon" entdeckten in den 90er-Jahren viele in Europa nicht nur ihre Faszination für japanische Zeichentrickkunst, sondern identifizierten sich auch mit dem gleichgeschlechtlichen Liebespaar.
"Salopp gesagt, wir hoffen, dass die Leute wegen dem Sex kommen und hinterher über ihre Vorurteile nachdenken. Das ist in einem Satz zusammengefasst die Didaktik dieser Ausstellung."
Das funktioniert, wie auch die zwei Porträts am Ausstellungseingang beweisen. Sie zeigen, anders als gedacht, nicht zwei ältere Albaner, die als Männer auf die Welt gekommen sind. Sondern Frauen, die sich irgendwann als Männer erklärten, um Familien und Unternehmen zu führen - und als solche auch voll akzeptiert wurden.
Das funktioniert, wie auch die zwei Porträts am Ausstellungseingang beweisen. Sie zeigen, anders als gedacht, nicht zwei ältere Albaner, die als Männer auf die Welt gekommen sind. Sondern Frauen, die sich irgendwann als Männer erklärten, um Familien und Unternehmen zu führen - und als solche auch voll akzeptiert wurden.