Die Ausstellung "Überlagerungen" im Berliner Haus am Waldsee bleibt bis zum 28. August 2022 geöffnet.
Die Wirklichkeit im Blick
05:16 Minuten
„Meine Arbeit ist ein Blick auf den Blick“, sagt der Fotograf Thomas Florschuetz. Im Berliner Haus am Waldsee stellt er seine Arbeiten zum Perspektivwechsel aus. Es sind Vexierspiele, die eines nicht bieten: den totalen Durchblick.
Ein erster Sonnenstrahl ist auf das Haus gegenüber gefallen, aber noch lässt die Eisschicht auf der Fensterscheibe die Fassade verschwimmen. Im nächsten Bild beginnt das Eis zu schmelzen. Durch die Schlieren des herab rinnenden Wassers ist jetzt das ganze Haus zu erkennen. Wenn aber die Augen auf die Scheibe fokussieren, sieht man nur das angetaute Eis. Für die Serie K52 hat der Fotograf Thomas Florschuetz an einem Morgen die vereisten Scheiben seines Berliner Atelierfensters in der Kollwitzstraße 52 fotografiert.
Für den Künstler ist die Serie programmatisch, wie er sagt, denn sie zeigt, „wie sich der Blick dadurch nach draußen öffnete. Aber immer war eben doch eine Folie dazwischen. Eine Folie, die sich verändert hat, aber die man metaphorisch natürlich auch immer ganz allgemein als Folie begreifen kann, die zwischen unserem Sehen, zwischen unserer Wahrnehmung von Welt und der Wirklichkeit selbst liegt“.
Perspektive durch die Zeit
Die Folie, der Filter, die persönliche Prägung, vielleicht auch die politische Propaganda, die Manipulation – das ganze Gepäck, das die Augen mit sich herumtragen, kommt in dieser oszillierenden Ausstellung zum Vorschein. „Überlagerungen“ – der Titel bezieht sich auf die verschiedenen Bild- und Zeitebenen. Und man muss schon genau hinschauen, um sich von diesem Vexierspiel nicht täuschen zu lassen.
Im Erker hängt eine großformatige Aufnahme des entkernten Palasts der Republik aus dem Jahr 2006. Die Kamera schaut durch Reihen von angerosteten Stahlträgern bis zum Lichtpunkt am Ende des Gerippes. Wenn man aus der Ferne auf das Foto zusteuert, wirkt es, als öffne sich ein Fenster im Ausstellungsraum. Dabei ist das Fenster nur im Bild. „Diese Zentralperspektive ist natürlich auch eine Perspektive durch die Zeit“, sagt Thomas Florschuetz. Und weiter:
„Man hat natürlich dann Details, Attribute in dem Bild, auf die man anspielen könnte. Das ist natürlich diese ganz opak im Hintergrund lauernde Außenwelt: diese Folien preußischer Geschichte, Nazi-Herrschaft, DDR-Zeit, jetzt Bundesrepublik. Man sieht irgendwo eine Struktur, an der mal das Emblem der DDR hing, das sind alles Details, die auch etwas mitteilen können.“
Der Atem des Elefanten
Dort, wo einst der Palast der Republik stand, präsentiert jetzt das Humboldt-Forum im neu errichteten Berliner Stadtschloss die Sammlung des Ethnologischen Museums. Florschuetz hat den Auszug der Exponate aus ihrem damaligen Standort in Dahlem von 2016 bis 2021 dokumentiert. „Spannend dabei war diese Übergangssituation“, sagt er:
„Dieses zum Teil noch Dastehende, zum Teil schon auf die Seite Gestellte, wo man merkte: Das ist nicht mehr an dem Platz, an dem es sein soll. Das ist quasi zwischengeparkt. Und dann gibt es diese Lagersituation, die im Hintergrund ist, die eingerichtet wurde, um all diese Objekte zwischenzulagern – und dann auszuwählen, was ins Humboldt-Forum kommt und was nicht.“
In einem Foto trennen Absperrgitter den Raum. Im Hintergrund stehen Lagerregale mit Folie verpackt, davor liegen Harpunenspitzen in einer geöffneten Vitrine und warten auf ihre Reise. „Elephant’s Breath“ hat der Fotograf die Serie genannt, der Atem des Elefanten:
„Ich fand das einen sehr schönen Titel, weil er natürlich auf der einen Seite etwas sehr Exotisches bezeichnet, auf der anderen Seite aber den Atem als etwas Lebensgrundsätzliches, aber auch Verhauchendes, Vergängliches, also als ein ephemeres Element darstellt.“
Subjektive Wirklichkeit
Thomas Florschuetz hält das Ephemere fest, indem er den Blickwechsel provoziert. Mal wirken die Artefakte würdevoll aufgeladen, dann wieder verlieren sie kurz vor dem Verpacken ihre Aura.
Und wo bleibt dabei die Wirklichkeit? Die Wirklichkeit, sagt Thomas Florschuetz, gibt es zwar, „wir sehen sie nur nie. Wir sind immer von sehr subjektiven Maßstäben abhängig, in dem, was wir sehen, in dem wie wir etwas beurteilen.“
Die Bilder von Thomas Florschuetz eröffnen immer mehrere Möglichkeiten. Sie lehren Misstrauen gegenüber dem Foto als Dokument und sie nähren Zweifel an der eigenen Sichtweise. Denn eins bieten die Überlagerungen, Verspiegelungen, Verkantungen in dieser faszinierenden Ausstellung nicht: den totalen Durchblick.